Diese Rubrik vereint die Analyse und Beschäftigung mit der unheimlichen Literatur als Ganzes. D.h., dass auch „strange story“, „weird fiction“, „pure horror“, „geistergeschichte“ und sogar manche Phasen der „crime fiction“ und der „gothic novel“ hier einfließen.
Auch wenn er selten aufgezählt wird, ist eine der bekanntesten Kreaturen der westlichen Volksmärchen der kopflose Reiter. Innerhalb der keltischen Folklore lässt sich die Erscheinung bis ins Mittelalter zurückverfolgen, aber die bekannteste Interpretation des legendären Gespensts stammt aus der Nähe von Terrytown, New York und ist in einem ruhigen Dorf namens Sleepy Hollow entstanden. Niedergeschrieben wurde die Legende von Washington Irving, und gehört hat jeder in der ein oder anderen Form schon einmal davon.
Die Legende besagt, dass das Gespenst einst ein hessischer Soldat gewesen ist, der in einer namenlosen Schlacht während des Revolutionskrieges durch eine Kanonenkugel getötet wurde. Der kopflose Reiter erhebt sich an jedem Halloween, um zu versuchen, seinen Schädel zu finden, indem er andere Köpfe abhackt, bis er den seinen endlich gefunden hat. Doch der kopflose Reiter ist natürlich nicht nur an Irvings Geschichte gebunden.
The Apparition of Mrs. Veal, veröffentlicht im Jahr 1706, ist eine der frühesten in englischer Sprache gedruckten Geistergeschichten. Geister gab es natürlich schon vorher in der englischen Literatur – man denke nur an den Geist von Hamlets Vater bei Shakespeare -, aber dies ist etwas anderes: ein Aufsatz, der vorgibt, die wahre Geschichte eines geisterhaften Besuchs bei einer realen Person zu sein. Wie soll man ihn einordnen? Handelt es sich um ein Werk der Fiktion, eine Kurzgeschichte, die dem Leser den Nervenkitzel verschaffen soll, für eine Minute an die Möglichkeit einer übernatürlichen Welt jenseits der Welt, die wir sehen können, zu glauben? Oder handelt es sich um ein Werk, das besser als Journalismus einzustufen ist, als aufrichtiger Bericht über ein Ereignis, das der Autor für wahr hält? Es ist schwer zu sagen; ein Teil der Kraft der Geschichte liegt darin, dass sie zwischen Fiktion und Wahrheit, dokumentarischer Realität und beunruhigenderen Möglichkeiten zu schweben scheint. Ein weiteres Rätsel dieser Geschichte ist die Identität ihres Autors.
Zu Jahresbeginn ist der Himmel in Baltimore stets bewölkt, es ist kalt, und Schnee perlt aus einem dunklen Himmel. Im Schrank hängt eine nicht zu verachtende Garderobe, aber das darf es heute nicht sein, heute hat der etwas abgetragene Mantel seine große Stunde. Auf dem Kaffeetisch liegt ein Band der von James Albert Harrison herausgegebenen siebzehn Bände umfassenden Reihe der Complete Works of Edgar Allan Poe von 1902.
Die Nacht senkt sich schnell, es ist die perfekte Bühne für einen namenlosen Mann, der sich wie jedes Jahr am 19. Januar in einer frostigen Nacht aufmacht, um auf dem alten Westminster-Friedhof drei Rosen und eine Flasche Cognac auf das Grab der berühmten Gedenkstätte zu legen. So geheimnisvoll wie der Unbekannte er gekommen ist, verschwindet er auch wieder. Vielleicht ist sein Kopf angefüllt mit Gedichten, die einen unglaublichen Klang besitzen, wenn man sie laut ausspricht. Wie Zaubersprüche, nur noch wirksamer.
Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary… Mitternacht umgab mich schaurig, als ich einsam, trüb und traurig…
Die Identität des Mannes wurde nie enthüllt, obwohl das Grabmal schon seit mindestens sechzig Jahren besucht wird. Nie war das Gesicht des Fremden zu sehen, Geschickt hielt er es unter einem schwarzen Filzhut und einem Schal verborgen.
Um das spätere Leben von Mrs. Radcliffe ranken sich einige Phantasien. Während die Jahre schweigend vergingen, machten verschiedene Gerüchte die Runde. Es wurde behauptet, sie sei in Italien, um Material für eine neue Romanze zu sammeln. … Ein anderer hartnäckiger Bericht besagte, dass sie von ihren eigenen geisterhaften Schöpfungen in den Wahnsinn getrieben und in eine Anstalt eingewiesen worden sei. Ein unbedeutender Dichter jener Zeit brachte in aller Eile eine ‚Ode an Mrs. Radcliffe über ihren Wahnsinn‘ in Druck. Oft wurde öffentlich behauptet, sie sei tot, und in einigen Zeitungen erschienen Nachrufe auf sie. Das Lustige an der Sache ist, dass sie selbst sich nicht die Mühe machte, mehr als eine der irreführenden Meldungen zu widerlegen. In einer erstaunlichen Anekdote, die von Aline Grant, der Biografin von Mrs. Radcliffe, erzählt wird, wandte sich Robert Will, ein Schreiberling, nach einer Meldung über den Tod der Schriftstellerin an den Verleger Cadell und bot ihm eine Romanze – The Grave – unter dem Namen „The late Mrs. Radcliffe“ an. Daraufhin erschienen Anzeigen in den Zeitungen.
Amüsiert über diese lächerliche Nachricht kam Mrs. Radcliffe eines Abends am Soho Square an und stieg lautlos die steilen Stufen zum Dachboden von Robert Will hinauf. Sie öffnete geräuschlos die Tür und trat in eine kleine, schwarz verhangene Kammer, die mit Totenköpfen, Knochen und anderen Friedhofsutensilien geschmückt war. Eine Sanduhr stand auf einem Sarg, und ein Beistelltisch war mit gekreuzten Schwertern und einem Dolch geschmückt. Ein junger Mann in Mönchskutte arbeitete fieberhaft mit seinem Federkiel im Schein einer Kerze.
Mrs. Radcliffe setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und flüsterte: „Robert Will, was tust du hier?“
Dem jungen Mann standen vor Schreck die Haare zu Berge, als er die bleiche Erscheinung betrachtete, die im flackernden Licht grässlich wirkte. Ihre dünne, weiße Hand streckte sich langsam aus, ergriff das Manuskript und hielt es über die Kerzenflammen. Als es zu Asche zerfallen war, verließ die Besucherin den Raum so lautlos, wie sie ihn betreten hatte. Am nächsten Tag beeilte sich der verängstigte Robert Will, den Verleger zu informieren, dass der Geist von Mrs. Radcliffe das Manuskript verbrannt hatte.
Die Geistergeschichten von Charles Dickens, der für seinen charismatischen Witz, seine Ironie und seine Satire berühmt ist, waren oft typisch für die viktorianische Ästhetik des Übernatürlichen – schaurig, aber charmant -, doch seine berühmteste kurze Geistergeschichte widersetzte sich den Konventionen, schockierte die Leser und verstört sie bis heute. Der Grund dafür mag in der persönlichen Komponente liegen: Dickens‘ „The Signal-Man“, zu deutsch: Der Bahnwärter, basiert auf der einflussreichsten Tragödie seines späteren Lebens, einer Tragödie, die ihn bis ins Grab belastete.
Am 9. Juni 1865 um 3:13 Uhr nachmittags war Charles Dickens mit seiner Geliebten Ellen Ternan und Ternans Mutter im Südosten Englands unterwegs, als der Zug von Folkestone nach London in der Nähe von Staplehurst aufgrund der Fahrlässigkeit eines Weichenstellers entgleiste. Das Zugunglück von Staplehurst kostete zehn Menschen das Leben und hinterließ vierzig Verletzte, von denen einige in Dickens‘ Armen starben. Der Autor war traumatisiert. Er verlor danach zwei Wochen lang seine Stimme und versuchte von da an, jeglichen Kontakt mit Zügen zu vermeiden.
Ein Gnom beim Betrachten der Eisenbahn (Carl Spitzweg)
Poes Geschichte „Das verräterische Herz“ wurde erstmals 1843 im Pioneer, einem Bostoner Magazin veröffentlicht.
Mord ohne Motiv
In dieser Erzählung finden sich auf engstem Raum alle Elemente der Schauerliteratur: das unterschwellige Geheimnis, das unheimliche Gebäude – hier wird ein ganzes Schloss in einen einzigen Raum verwandelt –, das schreckliche Verbrechen und das Oszillieren zwischen dem Übernatürlichen und dem Psychologischen. Auf nur fünf Seiten scheint es, als habe Edgar Allan Poe den Schauerroman des 18. Jahrhunderts zu einer Geschichte von nur wenigen tausend Wörtern verdichtet. Doch was genau macht diese Geschichte so beunruhigend? Eine genauere Analyse zeigt, dass sich „Das verräterische Herz” auf das Beunruhigendste überhaupt konzentriert: den Mord ohne Motiv.
Gleich zu Beginn müssen wir zunächst über eine übersetzungstechnische Definition sprechen. Schauerliteratur meint hier Gothic Fiction. Das ist – wie so oft – kein adäquater Ersatz, soll uns aber hier vorerst genügen.
Was genau ist Schauerliteratur? Und auch hier stellen wir fest, dass es keine konkrete Definition gibt, ob wir das Genre nun Gothic nennen oder nicht. Aber es gibt einige Elemente, die Schauergeschichten tendenziell gemeinsam haben. Aber nicht alle Schauermären, ob nun als Literatur oder als Film, enthalten all diese Elemente.
Es verhält sich etwa so wie bei dem Wort „postmodern“. Es ist ein unglaublich schwer fassbarer Begriff, der sich einer strengen Definition und Kategorisierung entzieht und oft mehrere Dinge auf einmal bedeuten kann.
Die kleine Schattenkunde ist ein literarischer Werkstatt-Podcast. Jede Folge führt zu einem anderen Text: Skizzen, Fragmente, seltsame Beobachtungen und fertig gelesene Passagen. Nur der Prozess des Erzählens und die Geschichten, die an den Rändern des Gewöhnlichen entstehen. Für alle, die das Unbestimmte lieben.
#04 Generation Loss – Dem Tod so nah (Elizabeth Hand)
byMichael Perkampus
Dem Tod so nah ist kein Pageturner im klassischen Sinne, sondern ein Noir-Horror über das Sehen: über den Blick, das Bild, das Begehren – und den ethischen Preis der Kunst. Der Roman besticht durch eine kompromisslos ehrliche, oft abstoßend faszinierende Ich-Erzählerin, eine messerscharfe Prosa und ein Setting aus Wetter, Holz, Salz und Schatten. Hand verhandelt die Frage, was Bilder mit der Wirklichkeit anstellen – und mit den Menschen, die sie machen.
Dem Tod so nah ist kein Pageturner im klassischen Sinne, sondern ein Noir-Horror über das Sehen: über den Blick, das Bild, das Begehren – und den ethischen Preis der Kunst. Der Roman besticht durch eine kompromisslos ehrliche, oft abstoßend faszinierende Ich-Erzählerin, eine messerscharfe Prosa und ein Setting aus Wetter, Holz, Salz und Schatten. Hand verhandelt die Frage, was Bilder mit der Wirklichkeit anstellen – und mit den Menschen, die sie machen.
Cass Neary, einst ein Shooting-Star der New Yorker Punk-Fotografie, heute ausgebrannt, abgehalftert, und gezeichnet von zu viel Pillen und Alkohol, bekommt eine letzte Chance: sie soll eine zurückgezogen lebende Ikone der 70er-Fotokunst auf einer abgelegenen Insel vor der Küste von Maine interviewen. Was wie eine Reportage beginnt, entwickelt sich zur Erkundung einer Landschaft aus Verschwinden, Gewalt und künstlerischer Obsession. Jugendliche werden vermisst, die Dorfgemeinschaft schweigt, und je näher Cass der legendenumwobenen Kollegin kommt, desto deutlicher wird, dass nicht nur Bilder, sondern auch Menschen „entwickelt“ – und dabei zerstört – werden können.
Der Plot bedient die Struktur des Ermittlungsromans, aber Hand löst sie nach und nach in Atmosphären und Wahrnehmungsverschiebungen auf. Die eigentliche „Ermittlung“ findet im Medium des Blicks statt: Was sehe ich? Was will ich sehen? Und was blende ich aus, um weitersehen zu können?
Der viktorianische Krimi, oder die Gothic Mystery, hat mittlerweile eine Vielzahl an Ablegern, so dass man sich wundert, wenn ein neuer Autor für sich beschließt, seine Geschichte ebenfalls in dieser Zeit anzusiedeln. Man fragt sich, ob dieses ganz spezielle historische Setting nicht schon längst überlaufen ist. Meine Antwort darauf ist ein klares Nein, denn auch, wenn es viele Reihen und Romane gibt, die das 19te Jahrhundert aufsuchen, sind wenige davon wirklich herausragend. Es wird wohl kaum möglich sein, die De Quincey-Trilogie von David Morrell vom Thron zu stoßen, aber auch darunter ist noch eine Menge Platz… für Frey und MacGray.
Das Interessante an Oscar de Muriel, dem Autor der ausgezeichneten Frey und McGray – Reihe, ist, dass er in Mexico City geboren wurde, also in einem Land, das nicht gerade für sein nebelverhangenes Gaslicht bekannt ist. Er kam ins Vereinigte Königreich, um seinen Doktortitel in Chemie zu machen und arbeitete als Übersetzer, um sich in dieser Zeit über Wasser zu halten. Wer jemals in Großbritannien war, der weiß, wie einfach es ist, dort die Idee für einen unheimlichen Krimi zu bekommen. Während London mittlerweile literarisch überlaufen ist, drängen immer mehr Autoren ins schottische Edinburgh. De Muriel hat dann auch nicht gezögert, einen Schotten und einen Engländer als Ermittler einzusetzen, deren Gegensätze von Beginn an das raffinierte Hintergrundrauschen bilden, denn es dürfte allgemein bekannt sein, dass hier nicht gerade wenig Konfliktpotenzial vorhanden ist. Sicher kann man behaupten, dass DeMuriel als Ausländer auf Stereotype und Facetten zurückgreift, die Gemeinplätzen ziemlich nahe kommen, aber so einfach sollte man es sich nicht machen, denn man merkt zu keiner Zeit, dass der Autor kein Brite ist. Das allerdings sage ich natürlich selbst als Nicht-Brite.
Carlos Fuentes‘ 1962 erschienene Novelle Aura gilt als eines der repräsentativsten Werke des mexikanischen Schriftstellers und ist ein Grundpfeiler der lateinamerikanischen Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Dieses Meisterwerk literarischer Experimentierfreude und psychologischer Raffinesse bestätigte nicht nur Fuentes‘ Platz als eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation, sondern trug auch zur Konsolidierung des sogenannten lateinamerikanischen Booms bei. Diese literarische Bewegung, die die Region zwischen den 1950er und 1970er Jahren prägte, machte Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und eben Fuentes weltweit bekannt. Mit Werken wie Aura und Der Tod von Artemio Cruz avancierte Fuentes zu einem zentralen Vertreter dieser Epoche.