
Mit dem Roman Die Nacht des Hexers beginnt 1973 nicht nur die literarische Karriere John Sinclairs, sondern auch die Entwicklung eines einzigartigen Erzählkosmos innerhalb der deutschen Populärkultur. Als erster Band der Reihe »Gespenster-Krimi« führt der Text den Ermittler in eine Welt ein, die gleichermaßen von Kriminalität und Okkultismus durchdrungen ist. Bereits hier werden Motive etabliert, die sich durch die gesamte Reihe ziehen: das Spiel mit dem Übernatürlichen, der Kampf gegen das personifizierte Böse, die allmähliche Verwandlung des rationalen Ermittlers in eine mythisch überhöhte Figur, denn John Sinclair ist nichts weniger als der Sohn des Lichts.
Der Roman spielt in der fiktiven englischen Stadt Middlesbury, in der sich eine Reihe unerklärlicher Todesfälle ereignet. Die Opfer weisen Spuren auf, die auf übernatürliche Einflüsse schließen lassen. John Sinclair, damals noch ein klassischer Scotland-Yard-Ermittler ohne besondere Kenntnisse des Okkulten, wird mit dem Fall betraut. Seine Ermittlungen führen ihn zu Professor Ivan Orgow, einem brillanten, aber gefährlich abgedrifteten Wissenschaftler, der sich der Nekromantie verschrieben hat. Orgow experimentiert mit der Wiedererweckung von Toten und hat mit Hilfe eines Mediums eine Armee von Zombies erschaffen, mit deren Hilfe er seine Macht festigen will. Sinclair gelingt es schließlich, Orgow zu besiegen, doch der Roman endet mit dem unheilvollen Versprechen einer zukünftigen Rückkehr des Bösen.
Literarisch gesehen markiert »Die Nacht des Hexers« zwar nicht die Geburtsstunde eines neuen Genres im deutschsprachigen Heftroman, also einer Mischform aus Detektivroman und Horrorfiktion, wohl aber den Beginn einer der weltweit erfolgreichsten Serien. Zu Beginn ist Sinclair noch kein Geisterjäger, sondern ein Polizeibeamter, der durch die Konfrontation mit dem Übernatürlichen aus seiner rationalen Ordnung geworfen wird, obwohl es bereits eine Abteilung für paranormale Phänomene gibt. Sie wird von Superintendent James Powell geleitet. Dieser Moment der Destabilisierung bildet die Grundlage für seine weitere Charakterentwicklung. Seine Figur steht damit sinnbildlich für die Spannung zwischen Aufklärung und Aberglauben, zwischen Vernunft und Mythos, die die Serie durchzieht.
Die Figur Ivan Orgows steht exemplarisch für den Typus des „mad scientist“. Er ist nicht nur ein Antagonist, sondern zugleich eine Metapher für die Schattenseiten des wissenschaftlichen Fortschritts, die zum Ende der 60er Jahre bereits ziemlich beliebt war. Durch die Verbindung von Naturwissenschaft und Magie öffnet sich ein Raum des Kontrollverlusts, in dem Moral und Ethik ausgehebelt werden. Orgow wird so zum Spiegelbild einer Gesellschaft, die sich vor den Konsequenzen ihrer eigenen Wissbegierde fürchtet. Die erste Figur eines “verrückten Wissenschaftlers” in der Belletristik entstand in einem dunklen, kühlen Sommer des Jahres 1816, als die 19-jährige Mary Shelley die Figur des Doktor Victor Frankenstein schuf. Ivan Orgow ist nur eine der unzähligen Varianten davon.
Besonderes Augenmerk verdient die Topographie des Romans. Das alte Anwesen Manor Castle, Orgows Laboratorium und der Friedhof sind klassische Schauplätze der Gothic Fiction. Ihre räumliche Abgeschiedenheit steht sinnbildlich für die soziale und moralische Isolation der Figuren. Die dadurch erzeugte Atmosphäre des Unheimlichen ist nicht bloße Kulisse, sondern integraler Bestandteil der Erzählstruktur. Allerdings zeugt die Bezeichnung “Manor Castle” von völliger Unkenntnis des Englischen, denn ein Manor ist nichts anderes als ein Herrenhaus. Daraus dann ein Manor Castle zu machen, ist schon etwas abwegig, aber das dürfte damals niemandem aufgefallen sein.
Natürlich gibt es auch das später ikonische Kreuz hier noch nicht, das Sinclair in späteren Episoden als Waffe gegen das Böse dient und das noch unentdeckte Geheimnisse birgt. Diese Abwesenheit verweist auf seinen Status als Neuling in einer Welt, deren metaphysische Regeln er erst noch kennen lernen muss. Das Kreuz dient ihm später nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Symbol einer neuen Identität – als Grenzgänger zwischen Diesseits und Jenseits.
Tatsächlich ist Die Nacht des Hexers bereits weit mehr als ein klassischer Auftaktband. Es ist ein Text, der bereits die DNA der gesamten Serie enthält. Die Grundspannung zwischen Logik und Mythos, zwischen Weltlichkeit und Transzendenz, wird hier angelegt und fortan variiert. Der Roman ist damit nicht nur der erste Fall John Sinclairs (tatsächlich ist es nicht einmal der erste), sondern auch ein programmatisches Manifest für alles, was noch folgen sollte, zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nicht abzusehen war.