Leon 2010, kurz nachdem wir beide leider deutschen Boden betreten mussten.
Leon war, als wir noch in der Schweiz lebten (genau genommen hat er die eidgenössische Staatsbürgerschaft nie abgelegt), der erste Kritiker meiner Gedichte. Denn wer sonst wäre in Frage gekommen, sich einen ernsthaften Eindruck über meinen Geisteszustand zu verschaffen? Leon durchstreifte mit mir die Nächte in Lichtensteig (als ich an Die Gilde der pechschwarzen Liebe arbeitete, gingen wir jede Nacht um drei Uhr über die Thur zum Automaten, um Skumkantarell zu besorgen) und später in Winterthur, wo wir der Einsamkeit einer Stadt lauschten. Leon hat das nicht weiter gestört, Hauptsache wir waren unterwegs.
Leon hat die letzten Jahre dort verbracht, wo er wohl seine beste Zeit hatte. In Biesen, dort wo wir früher im Studio arbeiteten, wo das Ouroboros Straum, Timber, und Der Regenschirm entstand. Und wo er schließlich zu Hause war. Zum Schluss war er ein alter Mann, aber ich glaube, er war glücklich. Das Problem ist, dass mich seine Heimkehr seltsam hart trifft. Ich werde tiefer in die Nacht fliehen.
Besagtes Wassermalheur in der Küche, das aus einem Zulaufhahn, dem ein Verschlussventil fehlte, als Fontäne nach oben schoss, und als Regen dann niederfiel, den ich an diesem brüllend heißen Tag unerwartet empfing, als die Maklerin im Bad den Haupthahn aufdrehte, war leider noch nicht das Ende der Fahnenstange. Ich sah: Gilbe Türklinken und Fensterrahmen, schnodrig geweißelte Wände, eine Tür, deren Zähne die Bodenfliesen aufreißen, eine unpraktischen Verteilung der Steckdosen. Ich sah mein Gesicht wegrutschen, äußerte: Ich bin geschockt. Das war sie auch. Ständig fiel ihr der Stift herunter. Sie beschwerte sich stante pede beim Hausmeister, der auch gleich kam. Entschuldigte sich mehrfach, hielt im Protokoll fest: der speiende Hahn solle bis morgen repariert sein, und versprach mir eine Wiedergutmachung.
Nuja. Das Bad ist immer noch ansehnlich. Recht groß, mit Badewanne und Waschmaschinenplatz. Der Blick in die Berge nicht zu verachten. Und es ist ruhig. Wirklich sonderbar aber war für mich, dass die Räume, die ich vom Besichtigungstermin mitgenommen habe, irgendwie andere waren. Sie waren mir geräumig, wurden mir im Laufe der Zeit gar weit und weiter. Ich habe sogar aus dem kleinsten Raum – ein Abstellkämmerchen – vor meinem inneren Auge, einen Tanzsaal gemacht. Das gelang mir schon einmal, vor vielen vielen Jahren, in Bergen op Zoom, als ich potselig in meinem Zelt lag, das sich dermaßen ausweitete als hätte es einen ganzen Hofstaat fassen wollen. An Phantasie mangelt es mir offenbar nicht. Nicht verwunderlich, ich vertrage ja auch keine Drogen, bin stets in anderen Sphären. Wer mit mir längere Zeit verbringt, nimmt das wahr. So ist die Entscheidung gefallen, dass der Venusberg eine Herberge meiner alten Möbelstücke wird, die ohnehin sehr raumeinnehmend sind. Ein schwerer weitflächiger Altherrenschreibstisch mit einer Schublade und jeweils einer Tür in den zwei stämmigen Beinen gehört dazu, ebenso ein alter Sessel, als auch mein bestes Stück: ein alter Jugendstilschrank mit ovalem Spiegel, Verzierungen und bunten Glaseinlassungen. Ein Schrank, der einen einlädt, ihn zu atmen, ihn zu begehen. Das wird nun unser gemeinsamer, in dem unsere Garderobe ihr Unwesen treiben kann: wenn im Busen der Kleider die Blumen schwellen …
Daher kommt er zu uns in den Keselground, in dem wir leiben und leben, wie es wohl kaum jemand anderem aufgrund der Quadratmeterzahl möglich ist. Allein die vielen Pflanzen und ihre Lust üppig zu werden, bezeugen es. Es wirkt auf uns, als fühlten sie sich äußerst wohl, sie kokettieren gar mit ihrer Erscheinung, der sie sich bewusst sind, da sie spüren, dass wir sie wahrnehmen. Fräulein Flamingo Anthurie, noch im zarten Pubertätsalter macht es vor, reckt und streckt sich, gibt alles, was wir ihr geben: in ihren grazilen Wuchs, vor allem aber in ihre wächsernen, knatschroten Phallusblüten. Ihre Babys interessieren sie nicht, sie will einfach nur obszön sein: Schminke! Schminke! Kajal und Lippenstift, ist offenbar ihr einziger Begehr.
Dennoch werden wir den Venusberg gemütlich herrichten. Meine zwei Teppiche werden es leisten. Denn es wird auch Besuch kommen, dem wir somit eigene vier Wände anbieten können. Ansonsten werde ich ihn wohl, habe ich irgendwann mal wieder mehr Zeit, als kleines Künstleratelier nutzen, in dem ich mich am Boden ausbreiten kann, um wieder zu malen. Mit vollem Körpereinsatz, mit Spatel und Spachtel, mit meinen Händen. Das war mir lange nicht möglich.
Wir beide investieren viel Energie. Betreiben Aufwand in allen Bereichen, unsere täglichen Tagespensi sind alles andere als plätschernde. Es ist mir oft, als müssten wir zum Fluss gehen, um uns Wasser zu holen. In den Wald, zum Holzhacken, um es warm zu haben. Das ist natürlich eine Übersetzung. Aber die verwendete Kraft ist oft dieselbe. Wir schleppen, wir laufen, laufen und laufen, zimmern und werkeln. Vergessen dies und das, irren, rennen ineinander, stehen staunend im Bauern herum. Bis einer von uns beiden müde unter der Achsel des Anderen einschläft.
Du bist mein Ort, schriebst du mir, … liest gerade unsere Briefe, gehst durch deinen Zettelkasten.
Deine Chimären sind seit heute nun endlich vollständig ausgedruckt. Es wird Zeit, dass ich wieder über dein Werk schreibe, ich trage es mit mir herum, seit ich damit begonnen habe.
Die Unbekümmertheit, mit der die Jugend ihr Formenspiel beginnt, kommt dem Gefühl für das Unendliche nahe, die Variationen lassen sich beliebig anordnen und ergeben einen Zufall nach dem anderen, aus dem sich das wahre Erleben speist. Jede Auflösung ist ein Zugewinn, eine weitere Sensation. Wenn ich über die Jahrzehnte nachdenke, die hinter mir liegen, kann ich mir nur zu all den provozierten Zufällen beglückwünschen. Trotzdem denke ich an die nicht angenommenen Varietäten, die den Ist/Soll-Faktor derart störten, dass mir nichts anderes übrigblieb, als über die Wahrscheinlichkeiten eines Ergebnisses zu spekulieren. Das Ergebnis ist meist ein Tiefenverständnis, das sich im Absurden äußert.
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Sehr guter Zusatz. Bereichert das ganze enorm. Danke!