Possenspiele

Schlagwort: H.P. Lovecraft (Seite 27 von 34)

Wolfgang Hohlbein – Die Spur des Hexers

Heute geht es um Wolfgang Hohlbein und seinen Hexer von Salem. Das war eine Roman-Serie, die von 1985 bis 1987 im Bastei-Verlag erschien, vorher aber schon im legendären Gespenster-Krimi startete, auch wenn es dort nur zu sechs Ausgaben kam. Später wurde die Serie im Taschenbuch weitergeführt und zum Schluss wurden 24 überarbeitete Bücher daraus. Hohlbein musste sich in vielen kindischen Kommentaren der Kritik aussetzen, dass er sich ordentlich bei Lovecraft bedient hat. Interessanterweise ist das genau der Sinn der Sache, aber im Gegensatz zu den Vielen, die heutzutage versuchen, wie Lovecraft zu klingen oder sogar Lovecraft zu sein, spinnt Hohlbein eine ganz eigene Variante im kosmischen Horror zusammen, die natürlich auf Unterhaltung abzielt – auf was denn sonst? Ich möchte mir an dieser Stelle die Serie eine Zeitlang anschauen und beginne mit dem Buch Die Spur des Hexers. Hohlbein hat erst 1990 den eigentlichen Beginn seiner Geschichte veröffentlicht. In diesem Prequel treffen wir Robert Craven nur am Rande an, denn er ist dort erst drei Jahre alt. Hauptakteur ist demnach dessen Vater Roderick Andara.

Der Name “Andara” ist ein Begriff aus der Welt der Kristalle. Besser gesagt handelt es sich dabei um Lava-Glas, genauer: um einen vulkanischen Obsidian. Gefunden wurden diese Steine im Gebiet der Choctaw-Indianer in Nordkalifornien, die ihnen besondere Heilkräfte nachsagen. Das interessanteste Phänomen der Steine dürfte sein, dass sie ihre Farben verändern können. Der altgermanische Vorname “Roderick” ist ebenfalls gut gewählt. Einige legendäre und historische Persönlichkeiten trugen ihn. Dass Wolfgang Hohlbein sich von dem 1983 erschienenen SciFi-Abenteuer “Roderick” von John Sladek hat inspirieren lassen, ist ebenfalls nicht ausgeschlossen, gehört das Buch doch zu den 100 besten Romanen der Science-Fiction, und es tauchen, wie in der Folge noch zu sehen ist, nicht wenige bekannte oder verdrehte Namen in der ganzen Geschichte auf (Bella Lugosi ist ein Beispiel; bei Hohlbein ist er eine Sie und seine Gastgeberin in Arkham und natürlich nicht der zukünftige Dracula-Darsteller).


Salem

Die Geschichte beginnt in Salem, und das ist weder eine Erfindung H. P. Lovecrafts noch Wolfgang Hohlbeins, sondern geht auf das tatsächliche Salem, Massachusetts – einem damaligen Dorf in der Nähe von Boston – zurück. Die dortige – und heute noch immer rätselhaft erscheinende – Massenhysterie führte zu einigen schauerlichen Hexenprozessen, so dass man heute durchaus behaupten kann, Salem ist für die mythologisierten Hexen das, was Transsylvanien für Vampire darstellt: ein unverrückbares Symbol.

Wolfgang Hohlbein

Roderick Andara befindet sich seit zehn Jahren auf der Flucht vor einem namenlosen Grauen, das ihn, einen Abkömmling der Hexen von Salem, nicht zur Ruhe kommen lässt. Als Jahrmarktsmagier verdingt er sich, um seine Identität zu verschleiern und um ständig in Bewegung zu bleiben und doch seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Seine Frau Jenny – und Mutter des jungen Robert Craven – ist vor wenigen Jahren bei einem rätselhaften Schiffsunglück ums Leben gekommen. Weil er seinem Sohn die strapaziösen Reisen einerseits, und die Gefahr andererseits, nicht mehr zumuten will, bringt er Robert nach Walnut Falls zu einer Pflegemutter, die er in einem einjährigen Briefkontakt auf Herz und Nieren abgeklopft hatte. Bevor Roderick sich wieder auf und davon macht, nimmt er seinem Sohn Robert die Erinnerung an eine Identität als Robert Andara. In einer Retrospektive erfahren wir, wie es zu Rodericks Flucht kam, auch wenn die einzelnen Details noch unklar bleiben. Da wird das Dorf Salem von einem aufgebrachten Mob dem Erdboden gleichgemacht, und jeder, der dort lebt, umgebracht. Der Hexenkreis um Andaras Mutter versucht sich, da liegt das Dorf bereits in den letzten Zügen, an einem Ritual, mit dem Roderick sich nicht einverstanden erklärt. 

Dabei fällt einer der Anwesenden negativ ins Gewicht. Es handelt sich um den Magier Necron, mit dessen Anwesenheit Roderick ebenfalls nicht einverstanden ist. Ein Entkommen scheint es für niemanden zu geben, sie alle haben bereits mit dem Leben abgeschlossen und der Hexenkreis führt – das unbestimmte – Ritual nur noch aus, um die Rache vorzubereiten. Weder ist in dieser Passage klar, warum Roderick verschwunden war und erst im letzten Augenblick auftauchte, um mit Jenny zu fliehen, noch, warum man ihm die Schuld gab, dass man dieser Hölle nicht entkommen konnte. Roderick seinerseits beteuert, dass er sie alle schließlich gewarnt habe. Sie hätten “damit” aufhören müssen. Was immer dieses “damit” ist.

Diese Erinnerung spult sich etwas konfus vor uns ab; auch wenn sich Details später noch ergeben werden, sind die Motive unklar. Es gibt der Andeutungen viele, die allerdings nichts zur Befriedigung unserer Neugier beitragen. Die gilt jedoch dem, was Rodericks Flucht betrifft. Und so hat Hohlbein gut daran getan, diese Skizze des Untergangs Salems eingebettet in eine Handlung zu präsentieren.

Die Entführung Robert Cravens

Wir befinden uns in der spätviktorianischen Epoche des späten 19ten Jahrhunderts, aber auf das Flair der damaligen Zeit verzichtet Hohlbein bis auf wenige Ausnahmen. Dafür gelingt es ihm, das schleichende Unbehagen zu schildern, das in Rodericks Umgebung herrscht. Nachdem er Walnut Falls verlassen hat, gerät er in eine Falle, die seinem Kutscher mitsamt dem Gefährt und den Pferden zum Verhängnis wird, während er selbst entkommt. Nun plagt ihn aber das schlechte Gewissen, seinen Sohn quasi schutzlos bei Maude Craven zu wissen. Als er zu ihrem Haus eilt, findet er es verlassen vor. Maude und Robert sind entführt worden.

Das bringt nun eine wichtige Figur ins Spiel, die sich im Haus aufhält und vorgibt zu wissen, wo sich Rodericks Sohn befindet. Es handelt sich um H.P. … Schelte gab es auch hierfür aus dem Lovecraft-Lager, denn dieser H.P. sei kein angemessener H.P. Lovecraft, so hörte man es läuten. Natürlich nicht! Es handelt sich ja gerade nicht den Autor Lovecraft, sondern um die Figur Lovecraft, und für den Zweck des Zyklus‘ hat Hohlbein das Problem der Verquickung mit dem Cthulhu-Mythos dadurch sogar sehr gut gelöst, denn er umgeht damit die Erzähltechnik, das Wissen um die Großen Alten einem allwissenden Autor in den Mund legen zu müssen. Eine Figur darauf zu verwenden, deren Kosmos man bedient, ist so einfach wie sinnig. Aber eben: es handelt sich nicht um Lovecraft, und deshalb gibt es keinen Grund, sich darüber zu beklagen, dass dort etwa Lovecraft mitspielen würde. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass man etwa Kai Meyer vorwarf, die Gebrüder Grimm als Detektive durchs Land zu schicken und darob die Tatsachen um Goethe und Schiller zu verdrehen (so geschehen in “Kai Meyer – Der Geisterseher” von 1995). Geradezu grotesk erschiene es, wollten wir der Fiktion vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen habe.

Rowlf
Rowlf the Dog

In einer nächtlichen Unterredung kann H.P., der stets von seinem Diener Rowlf umgeben ist, Rodericks Misstrauen zerstreuen und ihn davon überzeugen, dass sie sich gegenseitig helfen können. Natürlich ist auch der Name von H. P.’s Diener kein Zufall. Es lohnt sich nämlich durchaus, auf die Namen zu achten. Hätte Hohlbein nicht “Rowlf the Dog” gemeint, hätte er den Namen auch anders schreiben können, so aber bleibt keinem Leser der Querverweis zu einem der wunderbaren Muppets erspart.

Nach Arkham

H.P. und Roderick finden also heraus, dass sie gemeinsame Interessen im Kampf gegen ein Grauen haben, das hier als Tiefe Wesen geschildert wird, im Wasser lauernde Kreaturen, Abkömmlinge (oder Diener) des Cthulhu und eigentlich Wächter der Stadt R’lyeh. Aber womit H. P. zunächst punktet, ist, dass er weiß, wo Robert und Maude hingebracht wurden. Nach R’lyeh, in die versunkene Stadt, die (nach Lovecraft) Cthulhu und die Seinen vor Millionen Jahren erbauten, um dort die “Älteren Götter” zu bekämpfen. Die Informationen werden von Hohlbein zwar alle gestreut, aber für jemanden, der den Cthulhu-Mythos nicht kennt, sind das einfach nur Begriffe. Auf der einen Seite setzt Hohlbein das Wissen um das Werk Lovecrafts zwar voraus, benutzt es aber dennoch willkürlich, so dass es immer wieder zu Irritationen kommt. Man darf also nicht den Fehler machen, zu sehr auf den eigentlichen Mythos zu beharren.

Roderick und H.P. reisen getrennt nach Arkham, nur dass Roderick H.P. unter der Adresse einer Pension, in der sich die beiden treffen wollten, nicht antrifft. H. P. scheint einfach wie vom Erdboden verschluckt und Roderick führt seine Recherchen alleine durch. Das ist im Grunde der langweilige Hauptteil, bevor es zu einem Showdown kommt, der auch nur der Schatten eines Schattens von dem ist, was man hätte daraus machen können. Ob Hohlbein in solchen Fällen nicht kann oder nicht will, das ist die eigentliche Frage.

Im Grunde ist das Buch nur für Sammler und Komplettisten interessant. Es plätschert die meiste Zeit unaufgeregt vor sich hin und man merkt ihm an, dass es einfach nur nachgeschoben wurde. Für den eigentlichen Hexer-Zyklus ist es eher nicht von Belang. Hohlbein gelingt es zu keinem Augenblick, den Leser zu packen und die Begebnisse so darzustellen, dass man sich fragt, wie das wohl weitergehen mag. Selbst in seine Enwor-Saga gelang es ihm wesentlich besser, eine Lovecraft’sche Atmosphäre zu erzeugen, obwohl es dort gar nicht darum ging. Die Entstehungszeit verlief allerdings weitgehendst parallel zum Hexer.

Die Enwor-Saga von Wolfgang Hohlbein

In den 80er Jahren haben einige sehr interessante Werke der Fantasy ihren Ursprung. Stephen King begann sein gewaltiges Epos Der dunkle Turm, Stephen R. Donaldson legte seinen Thomas Covenant vor. Und es gab noch andere, die heute zur Grundlage dieses Genres zählen, alles in allem aber war es ein Tasten im Dunkeln. Die meisten Autoren zeigten sich von Tolkien inspiriert, der wie ein Magnet alle Ideen an sich zu reißen schien. Deutsche Autoren waren ohnehin nicht auf dieser Landkarte verzeichnet. Einer von ihnen machte aber gleich in seiner Anfangsphase dann doch von sich reden: Wolfgang Hohlbein. Und scheinbar brauchte der Mann keine Anlaufzeit, denn mit dem ersten Buch seiner Enwor-Saga brach er nicht nur mit der Tradition Tolkiens, sondern demonstrierte auch gleich jene ungeheure Fabulierlust, die ihm nicht nur Lob einbrachte. Was wenige wissen: unbeobachtet von der internationalen Entwicklung war er einer der ersten, die mit Enwor einen Erzählton einführten, der heute als Grimdark Fantasy in aller Munde ist und von Meistern wie Steven Erikson, George R. R. Martin, Scott Lynch oder Joe Abercrombie zu voller Blüte gebracht wurde. Heute gilt es als selbstverständlich, Glen Cook und seine „Black Company“ – Romane als Vorläufer des Genres zu betrachten, die ebenfalls in den 80ern ihren Ursprung haben, aber Wolfgang Hohlbein war ein ganzes Jahr früher dran. Und das ist noch nicht alles: Enwor ist sogar besser. Das zeigt vor allem eins: die schlechte Anbindung deutschsprachiger Literatur an die internationale – und vornehmlich die englischsprachige phantastische Literatur – zu jener Zeit. Wolfgang Hohlbein hat, bescheiden wie er ist, auch niemals darauf hingewiesen. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal. 


Wenn es zum Thema Hohlbein kommt, wird man meistens auf eine geteilte Meinung treffen. Einerseits schreibt der Mann am Fließband und bedient so viele unterschiedliche Genres, dass man bereits von Massenfabrikware sprechen kann. Andererseits sind die Qualitätsschwankungen eben so gewaltig, dass sich von regelrechtem Abraum bis zum phantastischen Feuerwerk nahezu alles in seinem Werk wiederfindet. Hohlbein hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er zur reinen Unterhaltung schreibt. Wenn wir ehrlich sind, tut das jeder gute Schriftsteller, auch wenn einige das gar nicht gerne hören.

Hohlbein ist heute so erfolgreich, dass er hin und wieder – wenn ein Jubiläum oder grundsätzlich eine Neuauflage auf dem Programm steht – Hand an seine Klassiker legt, um entweder Fehler und Ungereimtheiten auszumerzen und sprachliche Patzer zu glätten. Das war der Fall bei seiner Hexer-Reihe, die ja im Groschenroman-Milieu entstand und zu seinen erfolgreichsten Outputs zählt, und ich bin mir sicher, das hat auch bei der vorliegenden Neuauflage der Saga bei Blanvalet stattgefunden. Vorwort oder Einführung gibt es nicht (anders wie beim „Hexer“).  Außerdem hat man wieder einmal die Gelegenheit verpasst, die vier zur Saga gehörenden Kurzgeschichten mitzuliefern, so dass auch diese Ausgabe am Ende nicht komplett sein wird. So bleibt dem Komplettlisten nichts anderes übrig, als nach „Das Vermächtnis der Feuervögel“ (Piper) zu suchen, um die allererste Geschichte „Malicia“ zu ergattern. „Vela, die Hexe“, „Der Tag vor Harmageddon“ und „Der Tempel der Unsterblichkeit“ finden sich in „Von Hexen und Drachen“ (Bastei-Lübbe).

Bei dieser Neuausgabe aus dem Hause Blanvalet gibt es aber zur Abwechslung auch mal etwas Positives zu vermelden: wir bekommen eine farbige Gesamtsicht Enwors geliefert, und das ist in der heutigen Zeit ja nun auch nicht mehr Standard.

Lovecraft statt Tolkien

Jetzt sind wir schon beim Hauptpunkt angelangt: Ist der Hexer ganz offensichtlich von Lovecraft inspiriert, ist es Enwor nicht minder, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Und diese Art und Weise ist so eindrucksvoll, dass Enwor bis heute die beste Fantasy-Serie ist, die aus deutschen Landen kommt. Ich beziehe mich hier allerdings auf die ersten zehn Bände, die ich mehrmals gelesen habe, während ich Buch 11 und alles andere bisher nicht angefasst habe. Ob es diesmal anders wird, kann ich noch nicht sagen, aber ich habe vor, die gesamte Neuauflage zu begleiten.

Was diese Serie so besonders macht, ist natürlich ihr Setting. Das erste Buch erschien 1983. Man kann sich denken, dass die Fantasy-Landschaft damals eine gänzlich andere war als heute. Horror war groß (heute findet er als starkes Genre so gut wie überhaupt nicht mehr statt), und Figurenzeichnungen wie in der modernen Fantasy üblich, gab es eigentlich nicht. Alles richtete sich nach Tolkien aus, er war so gesehen magnetisch Nord, auf fast jedem neuen Fantasybuch war zu lesen: „Der neue Tolkien“ oder „In der Tradition Tolkiens“, und ähnliches. Enwor hat nichts mit Tolkien zu tun. Überhaupt nichts. Aber, wie bereits erwähnt, eben mit Lovecraft. Das mag nicht gleich ins Auge springen, denn Hohlbein entwarf hier mit seinem Freund Dieter Winkler eine eigenständige Welt und griffelte nicht am Lovecraft-Mythos herum, wie es heute schon fast üblich geworden ist. Die Idee zu Enwor hatten die beiden bereits seit ihrer Jugend, und während Hohlbein diese Welt an den nordamerikanischen Kontinent anpasste, entwarf Winkler die beiden Satai und ihr unzerstörbares Schwert Tschekal. Skar wurde nach seinen zahlreichen Narben benannt und Del ganz einfach nach der „Delete“-Taste der Computertastatur, schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der diese Dinge noch faszinierten.

Es gibt keine Große Alten und keine fischköpfigen Rednecks, aber es gibt etwas ähnliches. Es gibt starke Reminiszenzen, und schließlich gibt es die Sternengeborenen. 

Interessanterweise macht Hohlbein im vormals EndWorld genannten Kosmos das, was Stephen King später mit seinem Dunklen Turm machen sollte (auch wenn man beide Welten nun wirklich nicht miteinander vergleichen kann); er verlässt unsere Erde nicht, um sein Setting zu entfalten, sondern setzt seine Abenteuer in die Zukunft, direkt in eine Zeit hinein, da es unsere Zivilisation schon seit vielen Zehntausend Jahren nicht mehr gibt. Aber das war nicht das einzige Innovative.

Heute spricht man gerne von Grimdark, wenn es sich um eine Geschichte handelt, die ein gewissen Maß an „Realismus“ in sich birgt. Mit diesem Realismus ist keineswegs ein Mangel an Fantasie gemeint (ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass es Hohlbein daran garantiert nicht mangelt), sondern vor allem das Beiseitelegen eines schwarzweiß-Denkens. Das war zumindest in Deutschland 1983, als „Der wandernde Wald“ erschien, ein Novum. Die Gewaltdarstellungen sind hier brutal und detailliert. Zwar wird Hohlbein bei der Entwicklung der Grimdark-Fantasy nicht erwähnt, aber er war durchaus der erste, der etwas Neues versuchte. Und diese Welt, die er gemeinsam mit seinem Freund entwarf, war für damalige Verhältnisse definitiv das Ding der Stunde. Ich selbst bekam Enwor erst zehn Jahre später in die Finger und es war die erste Fantasy-Saga, die ich (nach dem Herrn der Ringe) überhaupt gelesen hatte. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ich las alle zehn Bücher innerhalb eines Monats. Etwas Vergleichbares war mir zu diesem Zeitpunkt nur mit Stephen King passiert.

Der wandernde Wald

Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Enwor ein ganzer Zyklus werden würde, und so ist Buch 1 für all jene geeignet, die einfach mal in diese Welt hineinschnuppern wollen. Ohne gleich das ganze Werk zu lesen. Der wandernde Wald funktioniert nämlich als eigenständige Geschichte, die keine weiteren Erkenntnisse benötigt oder am Ende mit einem saftigen Cliffhanger aufwartet.

Dennoch sind hier alle Zutaten vorhanden: Die beiden Satai Skar und Del, die einer sehr interessanten Kriegerkaste angehören, laufen eigentlich immer im roten Bereich. Dass wir sie hier als Freunde kennen lernen, macht die spätere Entwicklung um so tragischer. Hohlbein hat das Spannungsfeld dieser beiden Krieger so aufgebaut, dass es einen wichtigen roten Faden durch den ganzen Zyklus zieht. Skar selbst ist eine Blaupause für Logen Neunfinger aus Abercrombies Klingen-Trilogie. Hätte Hohlbein sein Werk heutzutage verfasst, würde das vermutlich ganz genau so gesehen werden – nur umgekehrt. Ein Krieger, der über die Möglichkeiten seines Körpers zu gehen gelernt hat und der im Kampf von einem Furor erfasst wird, den er gar nicht mehr kontrollieren kann.

Der verführerische Fremde in dunklen Gassen: H. P. Lovecrafts „Er“

Heute sehen wir uns die Story „ER“ etwas genauer an. Sie wurde im August 1925 geschrieben und im September 1926 im Weird Tales Magazine veröffentlicht.

„Statt der Gedichte, die ich mir erhofft hatte, kam nur schauderhafte Leere und unbeschreibliche Einsamkeit; letztendlich erkannte ich eine furchtbare Wahrheit, von der noch nie jemand gewagt hatte, sie auszusprechen – das nicht flüsterbare Geheimnis der Geheimnisse – die Tatsache, dass diese Stadt aus Stein und Atemrasseln keine empfindungsfähige Fortführung des alten New York ist, so wie London diejenige des alten London und Paris die des alten Paris, sondern dass sie in der Tat ganz tot ist, ihr weitläufiger Leichnam unvollkommen einbalsamiert und infiziert mit sonderbar belebten Dingen, die nichts mit ihm zu tun haben, wie er einst im Leben war. Nach dieser Entdeckung konnte ich nicht mehr ruhig schlafen.“ (Übers. Perkampus)

Der nächtliche Wanderer

Unser Erzähler, ein aufstrebender Dichter, wandert durch die nächtlichen Straßen New Yorks, um „seine Seele und seine Träume“ zu retten. Der Anblick des ersten Sonnenuntergangs, den er dort erlebt, begeistert ihn, denn die Stadt schien „majestätisch über den Gewässern der Stadt aufzuragen, seine unglaublichen Erhebungen und Pyramiden stiegen blumengleich und zart aus einem Verbund violetten Nebels.“ (Übers. Nymphenbad).

Doch bei Tageslicht trifft ihn das ernüchternde Elend. Die Menschenmassen erscheinen ihm als gedrungene und dunkelhäutige Fremde. Die fürchterliche Wahrheit, das nicht einmal geflüsterte Geheimnis ist, dass New York tot ist, ein Leichnam, infiziert mit „sonderbar belebten Dingen“. Nichts blieb von seinem ehemaligen Ruhm zurück.

Lovecraft

Von nun an wagt sich der Erzähler nur noch nach Einbruch der Dunkelheit heraus, wenn „die Vergangenheit noch wie eine Geistererscheinung über allem schwebt“. Er besucht hauptsächlich die Greenwich-Bereiche, worüber er Gerüchte hörte, dass die Höfe dort einst ein weitverzweigtes Netzwerk aus Gassen verband. Hier existieren noch Reste aus der Georgianischen Ära: an den Türen finden sich Türklopfer, Stufen sind mit Eisen versehen und sanft glühen die Oberlichter. An einem bewölkten Morgen im August, um 2 Uhr, nähert sich ihm ein Mann. Der ältere Fremde trägt einen Hut mit einer breiten Krempe und einen aus der Mode gekommenen Mantel. Seine Stimme ist dumpf – immer ein schlechtes Zeichen – sein Gesicht erschreckend weiß und ausdruckslos. Trotzdem vermittelt er einen vornehmen Eindruck. Der Erzähler akzeptiert sein Angebot, sich von ihm in Regionen von noch wesentlich höherem Alter einführen zu lassen.

Sie durchqueren Korridore, klettern über Backsteinmauern, kriechen sogar durch einen langen, gewundenen Steintunnel. Immer älter wird die Umgebung, es ist sowohl eine räumliche- als auch eine Zeitreise. Ein steiler Hügel, ungewöhnlich für diesen Teil New Yorks, führt zu einem ummauerten Anwesen, offenbar das Heim des Fremden.

Unbeeindruckt vom Muff der Jahrhunderte folgt der Erzähler dem Fremden nach oben zu einer gut ausgestatteten Bibliothek. Von Mantel und Hut befreit, zeigt sich der Fremde in einem Georgianischen Kostüm, und seine Ausdrucksweise fällt in den passenden archaischen Dialekt. Er erzählt die Geschichte seines Vorfahren, eines Gutsherren mit eigenartigen Vorstellungen über die Macht des menschlichen Willens und über die Veränderlichkeit von Zeit und Raum. Er entdeckt den Platz, wo er sein Haus erbauen möchte – mitten in einem Zentrum indianischer Riten; die Wände hielten die Indianer nicht davon ab, ihre Zeremonien weiterhin auszuführen, immer, wenn der Vollmond zu sehen war. Schließlich trifft er ein Abkommen – die Indianer bekommen Zugang zum Hügel, wenn sie ihn in ihre Magie einführten. Sobald er jedoch eingeweiht war, muss er seinen Gästen „schlechten Rum“ verabreicht haben, denn er war plötzlich die einzige lebende Person, die das Geheimnis kannte.

Es ist das erste Mal, dass der Fremde einem Außenstehenden von diesen Riten erzählt, weil er den Erzähler für „verrückt nach vergangenen Dingen“ hält. Die Welt, fährt er fort, ist nur der Rauch, den unser Verstand erschafft, und er will dem Erzähler einen Blick auf längst vergangene Jahre gewähren, solange er seine Angst zurückhalten kann. Mit eisigen Fingern zieht der Fremde den Erzähler zu einem Fenster. Eine Handbewegung zaubert New York zurück in ein Zeitalter, als die Stadt noch Wildnis war. Dann beschwört er das koloniale New York. Der Erzähler fragt den Fremden, ob er es wagen würde, noch weiter zu gehen, und der Fremde zaubert den Anblick einer künftigen Stadt, in der seltsame Flugobjekte umher schwirren, gottlose Pyramiden und „gelbe, schielende Menschen“ in orangenen oder auch roten Roben, die im Wahnsinn zu Trommeln, Hörnern und Krotalons tanzen.
Zu viel für den Erzähler: er beginnt zu schreien. Als nächstes hört man Schritte auf der Treppe, als ob sich eine Horde barfuß nähere. Es wird an der Tür gerüttelt. Erschrocken und wütend nennt der Fremde sie „die Toten“, die „Roten Teufel“. Er klammert sich an die Vorhänge des Fensters, reißt sie herunter und lässt das Mondlicht ins Zimmer fluten. Zerfall erstreckt sich über die Bibliothek und den Fremden gleichermaßen. Er schrumpft zusammen, während er noch versucht, mit seinen Klauen nach dem Erzähler zu greifen. Bis ein Tomahawk die Tür in Stücke reißt, ist von dem Fremden nicht mehr übrig als ein knisternder Kopf mit Augen.

Was da durch die Tür kommt, ist eine amorphe Masse, in der leuchtende Augen zu erkennen sind. Sie schluckt den Kopf des fremden und zieht sich zurück, ohne den Erzähler zu behelligen. Unter ihm gibt der Fußboden nach und er stürzt in Richtung Keller. Irgendwie gelingt es ihm, nach draußen zu gelangen, wird aber verletzt, als er versucht, die Mauer, die um das Anwesen führt, zu überwinden.
Der Mann, der ihn findet, sagt aus, der Erzähler muss trotz seiner gebrochenen Knochen einen langen Weg gekrochen sein, aber der Regen hat seine Blutspur verwischt, so dass man nicht mehr sagen kann, wie weit. Niemals wieder versucht der Erzähler, den Weg zurück in dieses dunkle, von der Vergangenheit heimgesuchte Labyrinth zu finden. Er kehr nach New England zurück, zu unverfälschten Wegen, über die am Abend der duftende Meerwind fegt.

Info:Lovecraft benutzt die Traum-Metapher in vielen seiner Erzählungen, andere wiederum muten selbst wie ein Traum an. ER ist eine von ihnen, scheint aber das Produkt eines Wachtraumes gewesen zu sein. Im August 1925 unternahm Lovecraft einen Spaziergang durch die Nacht der New Yorker Straßen, um das, was von der Vergangenheit noch „gespenstergleich“ vorhanden zu sein schien, auszukosten. Es endete damit, dass er eine Fähre nach Elizabeth, New Jersey nahm, sich ein Notizbuch kaufte und die Geschichte niederschrieb.

Der Fremde in der Welt

Der erste Absatz liest sich wie eine überreizte Autobiographie, ein Aufschrei des Herzens aus Einsamkeit, Enttäuschung und Entfremdung. Die Romanze des Erzählers mit New York währte nur kurz.

Hier war Lovecraft ein Fremder in einem fremden Land. Als frisch gebackener Ehemann befindet er sich ebenfalls auf unbekanntem Gebiet. Außerdem gelingt es ihm nicht, seine Finanzen so zu organisieren, dass er ein vernünftiges Auskommen hat. All das, was er sich vorgenommen hatte und wovon er träumte, fand keine Umsetzung. Er ist nicht in der Lage, die verschiedenen Dialekte zu verstehen. Deshalb schrieb er „ER“, deshalb schrieb er „RED HOOK“, deshalb schrieb er „KÜHLE LUFT“. Lärm! Menschenmassen! Gestank! Ausländer, die in fremden Zungen sprechen! Und sie haben keine blauen Augen! Aber das trifft ebenso auf viele Angelsachsen zu. Selbst in New England. Aber zumindest sprechen sie Englisch.

Lovecraft war ein klassischer Angst-Patient, die Zeit, in der er lebte, war nicht die seine. Aber er wusste, dass es noch immer Bereiche gab, die das Flair des Alten an sich hatten.

Unzusammenhängende Innenhöfe, ein Labyrinth der Straßen, die in eine andere Zeit hinein führen, wie in PICKMAN’S MODEL. Ein unglaublich steiler Hügel, der zu überwinden ist, wie in DIE MUSIK DES ERICH ZANN. Ein Führer, der einen archaischen Dialekt spricht – es ist immer noch Englisch und somit vertraut. Die geisterhafte Stadt und selbst das Herrenhaus beruhigt durch sein fest in der eigenen Kultur verwurzeltes Gewese. Es ist egal, dass es dort ein wenig – verrottet müffelt.

Und dennoch – Vertrautheit ist nicht alles. Die Realität selbst ist sinnentleert und schrecklich, oder etwa nicht? Wunder und Geheimnisse sind kraftvolle Verlockungen für den poetischen Geist. Es ist gar nicht so übel, ein unbewohntes New York der Vergangenheit zu imaginieren. Es ist sogar wundervoll, einen Blick auf die koloniale Vergangenheit zu werfen. Wenn der Erzähler nur damit zufrieden gewesen wäre! Doch der wünscht sich eine Vorschau auf die ferne Zukunft, die sich als sein schlimmster Alptraum entpuppt: New York wurde von gelben, schielenden Menschen übernommen, die zu einer seltsamen Musik tanzen. Wie die Männer von Leng! Wie die geistlosen Äußeren Götter! Lovecraft, so scheint es, hatte nicht viel für den Tanz übrig.

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