Possenspiele

Schlagwort: Literatur (Seite 14 von 81)

Die schweigende Welt des Nicholas Quinn / Colin Dexter

Morse ist ein interessanterer Charakter. Er ist ein Mann, der den Leser fasziniert, dem man aber auch mit Vorbehalten gegenübersteht. Lewis findet ihn zuweilen unnötig grob, und das ist er auch. Morse ist ein Effekthascher wie viele großen Detektive, und seine Grobheit dient dazu, die Leute aufzurütteln. Außerdem ist er ein rasender Egoist. Er sagt den Leuten, die er trifft, ziemlich oft, dass er „den besten Verstand in ganz Oxford“ hat. Interessanterweise zeigt er es dann auch. Morse vereint viele widersprüchliche Charaktereigenschaften. Bewunderung und Abscheu liegen nah beieinander, und das ist der Grund, warum Morse so ein überragendes literarisches Gesicht und Gewicht trägt.

Dabei musste Colin Dexter nicht lange nachdenken, wie er seinen Inspektor anlegt. Er nahm sich selbst als Vorbild. Nicht nur, was das Interesse an Bier, englischer Literatur, kryptischen Kreuzworträtseln usw. betrifft, sondern gerade von der Persönlichkeit. Beim Lesen der Morse-Romane hat man unweigerlich das Gefühl, Colin Dexter selbst vor sich zu haben und nicht etwa nur eine fiktive Figur. Morse kennt – wie Dexter – seine Fehler nur zu genau, ist aber nicht imstande, sich für sie zu entschuldigen.

Im dritten Roman der Serie – Die schweigende Welt des Nicholas Quinn – bekommen wir eine Figur, der Dexter durch seine eigenen Lebenserfahrungen Glaubwürdigkeit verleiht. Natürlich sind all diese Romane im Milieu des Oxford-Bildungssystems angelegt, weil Dexter sich dort hervorragend auskannte. Dexter war ein Lehrer, der wegen Taubheit in den Ruhestand gehen musste. Danach nahm er eine Stelle in der Prüfungskommission an, die der des Nicholas Quinn im Roman ziemlich ähnlich ist. Quinn bekommt den Zuschlag im Verband für Auslandsprüfungen, obwohl er fast taub ist. Nicht lange danach wird er – mit Zyankali vergiftet – aufgefunden. Es sollte zwar wie Selbstmord aussehen, aber Morse lässt sich wie gewöhnlich nicht täuschen.

Später im Roman findet Morse heraus, dass Quinn ein außergewöhnlicher Lippenleser war und etwas belauscht hatte, das man eigentlich nicht verstehen konnte, wenn man nicht über dieses Talent verfügte. Dexter geht darauf ein, wie Morse herausfindet, dass bestimmte Buchstaben für Lippenleser schwer zu unterscheiden sind. Er verhaftet den falschen Mann und stellt dann fest, dass er aufgrund der Ähnlichkeit zwischen dem Namen des tatsächlichen Mörders und dem des Verhafteten auf die falsche Person kam.

Es ist fast so, als ob Dexter sich in diesem Roman selbst in zwei Teile spaltete. Da ist sein Alter Ego Morse und gleichzeitig das Opfer – ein Abbild seiner eigenen Taubheit. Die Romane sind nicht zuletzt deshalb so interessant zu lesen, weil Dexters Wissen, das überall einfließt, eher persönlich als recherchiert ist. Er kennt Oxford; und jeder, der gerne durch die berühmteste aller Universitätsstädte geführt wird, ist hier an der richtigen Adresse. Tatsächlich sucht Dexter in keinem Roman dieselben Teile Oxfords auf. Gelegentlich wird eine Hauptverkehrsstraße wie die Woodstock Road erwähnt, aber nie dieselben Gebäude, Pubs oder Vororte, so dass am Ende ein kompaktes Panorama entsteht.

Im Grunde sticht aus den 13 Romanen kein einziger wie ein Turm hervor. Sie alle sind hinterhältig und voller Ablenkungsmanöver, und auch wenn man noch so gut aufpasst, wird man am Ende überrascht sein, wenn Morse alles für den Leser und einen verblüfften Lewis aufdröselt.

Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires / Ricardo Piglia

Ricardo Piglias Essay „Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires“ – im Original Formas Breves -, ist ein Schlüsseltext, der die Kraft und den Reiz der Kurzform in der Literatur untersucht. Piglia, einer der bedeutendsten Schriftsteller der lateinamerikanischen Literatur, beherrscht die Kunst, komplexe Gefühle und Botschaften auf engstem Raum zu verdichten. Seine Analyse konzentriert sich auf die literarischen Techniken, die in Kurzgeschichten, Mikrogeschichten und Essays zum Einsatz kommen, und zeigt, wie diese Formen ein reichhaltiges und tiefgründiges literarisches Werk ermöglichen.

Kurzformen in der Literatur sind ein wirkungsvolles Mittel, um auf knappem Raum intensive emotionale und intellektuelle Eindrücke zu erzeugen. Piglia sieht in diesen Formen nicht nur ein Instrument der Verdichtung, sondern auch ein Medium, um komplexe Themen wie Identität, Erinnerung und Politik zu erforschen. Seine Kurzgeschichten und Essays bieten dem Leser literarische und kulturelle Bezüge, die trotz ihrer Tiefe zugänglich und spannungsgeladen bleiben.

Piglia argumentiert, dass große Kurzgeschichten immer zwei Geschichten enthalten: eine sichtbare und eine verborgene, die erst durch die Interpretation des Lesers zum Vorschein kommt. Diese narrative Struktur macht die Kurzgeschichte zu einem idealen Medium, um dichte Bedeutungsschichten zu erzeugen, wie es auch Jorge Luis Borges meisterhaft demonstriert hat.

Dabei handelt es sich bei der Theorie der „zwei Geschichten“ um ein zentrales Konzept, um die narrative Struktur zu beschrieben, bei der zwei Geschichten gleichzeitig erzählt werden:

a. Die sichtbare Geschichte

Die erste Geschichte liegt an der Oberfläche der Erzählung. Sie ist direkt wahrnehmbar, weil sie explizit erzählt wird. Diese sichtbare Geschichte dient oft als eine Art Rahmen oder Kulisse, die den Leser in die Erzählung hineinzieht. Sie ist in der Regel einfach, handlungsorientiert und leicht verständlich.

Beispiel: In einer klassischen Detektivgeschichte könnte die sichtbare Geschichte die Suche eines Detektivs nach dem Täter sein. Sie gibt der Erzählung eine klare Struktur und vermittelt einen offensichtlichen Handlungsverlauf.

b. Die verdeckte Geschichte

Die zweite Geschichte ist subtiler und liegt unter der Oberfläche. Sie wird nicht direkt erzählt, sondern entsteht durch Anspielungen, Symbole und Leerstellen im Text. Diese verborgene Geschichte erfordert die aktive Beteiligung des Lesers, der die verschiedenen Hinweise zusammensetzen muss, um die tiefere Bedeutung oder den subversiven Inhalt der Erzählung zu entschlüsseln.

Beispiel: In derselben Detektivgeschichte könnte die versteckte Geschichte Fragen über Gerechtigkeit, Macht oder die subjektive Natur der Wahrheit aufwerfen. Während der Ermittler den Fall löst, könnte die Erzählung gleichzeitig die gesellschaftlichen Strukturen kritisieren, die solche Verbrechen ermöglichen.

c. Das Zusammenspiel der beiden Geschichten

Piglia argumentiert, dass große Kurzgeschichten von diesem Spannungsverhältnis zwischen sichtbarer und verborgener Geschichte leben. Die sichtbare Geschichte erfüllt eine funktionale Rolle: Sie sorgt für den äußeren Fluss der Handlung und macht die Geschichte für den Leser greifbar. Die verborgene Geschichte hingegen öffnet den Raum für Interpretationen und spiegelt tiefere Themen oder Botschaften wider.

Dieses Konzept lässt sich gut in den Werken von Jorge Luis Borges nachvollziehen. Ein Beispiel ist die Erzählung Das Haus des Asterion (La casa de Asterión), die auf den ersten Blick die Geschichte eines einsamen Wesens erzählt, das durch ein Labyrinth irrt. Erst am Ende wird enthüllt, dass es sich um den Minotaurus handelt – und damit entfaltet sich die verborgene Geschichte, die philosophische Fragen über Isolation, Opferbereitschaft und die Perspektive von Monstern aufwirft.

Borges als Prototyp der Kurzformen

Jorge Luis Borges nimmt in Piglias Essays eine zentrale Stellung ein, denn für Piglia ist er ein Pionier der literarischen Verdichtung, der mit minimalistischen Mitteln universelle Themen wie Unendlichkeit, Zeit und Wissen verhandelt. Werke wie Die Bibliothek von Babel oder Das Aleph sind hierfür Paradebeispiele für Kurzformen, die auf engstem Raum eine immense Bedeutungsfülle entfalten. Die Verbindung von Piglia und Borges ist in Piglias Werken überhaupt ziemlich prominent, was unter anderem auch an Buenos Aires liegt, jene Stadt also, die für Piglia selbst eine wichtige Inspirationsquelle darstellt. Die urbane Komplexität und kulturelle Hybridität der Stadt ist für beide Autoren ein Ort, an der das Lokale und das Universelle miteinander verschmelzen wie in Europa eventuell Paris.

Buenos Aires und die literarische Tradition

Die Stadt Buenos Aires wird von Piglia folgerichtig als literarischer Schmelztiegel und als Metapher für die Erzählkunst selbst beschrieben. Buenos Aires ist für ihn eine Art modernes Babylon, in dem Geschichten, Sprachen und Kulturen aufeinanderprallen und neue Erzählformen hervorbringen. In diesem Zusammenhang hebt Piglia an verschiedenen Stellen die Werke exzentrischer Autoren wie Roberto Arlt und Macedonio Fernández hervor, und sogar den polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, deren unkonventionelle Texte die literarische Landschaft Argentiniens geprägt haben.

Piglia geht es aber nicht nur um Borges oder andere Dichter, sondern um die grundlegenden Strukturen und Funktionen der Literatur. Seine Analysen zeigen eine tiefe Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der kurzen Form, die er als eine Art „Mikroskop der Literatur“ betrachtet: Sie fokussiert die Essenz von Geschichten, destilliert Bedeutungen und schafft Raum für Reflexion.

Seine Fähigkeit, eine Vielzahl von Themen auf wenigen Seiten zu verdichten, ist ein Kennzeichen seines Stils. Seine Kurzformen laden den Leser ein, die Lücken selbst zu füllen, Bedeutungen zu entschlüsseln und Zusammenhänge herzustellen. Dabei setzt Piglia stets auf einen intertextuellen Ansatz, in dem seine Texte auf ein weites Netz literarischer und kultureller Bezüge zurückgreifen.

Die deutsche Ausgabe von Formas Breves, übersetzt von Elke Wehr, erschien im Jahr 2006 bei Berenberg.

Die Zeugen / Jaime Begazo

Auch wenn oft behauptet wird, Jorge Luis Borges sei ein Meister der Irreführung gewesen, verhält es sich vielmehr so, dass er seine Leser doch eher davon überzeugte, dass es keinen Unterschied zwischen „Realität“ und Fiktion gibt. Dazu musste er nicht auf das Werkzeug einschlägiger Philosophen zurückgreifen; er begriff die bedeutende Rolle, die Sprache bei der Schaffung von Realität spielt und entwickelte das, was später die postanalytische Sprachwissenschaft dankbar aufnehmen sollte, durch sein literarischen Spiel.

Jorge Luis Borges wird völlig zurecht als der Inbegriff der Literatur gesehen. Damit löste er einst Kafka ab, wenn auch in gänzlich anderer Weise. Es ist für jeden an der Literatur interessierten wichtig, ihn so früh wie möglich zu studieren, aber nicht zu früh, weil eine gewisse Lebens- und Leseerfahrung vonnöten ist, dem großen Mann durch seine hermetischen Labyrinthe folgen zu können.

Spricht man über Borges, dann spricht man zu Eingeweihten, zu jenen, die einem geistigen Adel angehören, oder einer Gruppe von Intellektuellen, die den Templern ähnelt, man spricht über ein Geheimnis, in dessen Mitte unweigerlich Borges thront. Ähnlich verhält es sich damit, das Buch „Die Zeugen“ von Jaime Begazo zu lesen, der im Grunde – auch wenn er seine eigene findige kleine Erzählung präsentiert – damit nichts anderes tut, als eine letzte Geschichte Borges‘ zu Papier zu bringen, oder zumindest ein Geflecht vorzulegen, das auf das Literaturverständnis des großen Mannes rekurriert, inklusive des äußerst präzisen Stils.

In Borges‘ Erzählung Emma Zunz taucht einmal kurz der Name Milton Sills auf, ein Schauspieler der Stummfilmzeit, der – außer der Erwähnung einer Daguerreotypie mit seinem Konterfei – keine andere Rolle spielt, als Inventar der Geschichte zu sein. Jaime Begazo stellt sich allerdings in diesem kleinen Kabinettstückchen ganz berechtigt die Frage, was es mit dieser Erwähnung auf sich hat, ausgehend von dem Wissen, dass bei Borges kein einziges Wort jemals bedeutungslos ist. Der Erzähler berichtet uns von seinem Besuch in Genf, wo er Borges 1986, kurz vor seinem Tod, die Frage nach Stills stellen kann. Und der große alte Mann erzählt die „wahre“ Geschichte, die sich hinter Emma Zunz verbirgt. Das heißt, er betont die „Realität“ dieser Geschichte. Wäre das, was Borges dem Erzähler berichtet, wahr, könnte das alles, was man über Borges weiß, ins Wanken bringen.

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