Possenspiele

Schlagwort: Literatur (Seite 15 von 81)

H.P. Lovecraft: Verkünder des Erhabenen

Die meisten Menschen wissen, dass Grimms Märchen nicht das verwässerte Zeug sind, das uns Walt Disney gegeben hat. Sie sind viel düsterer, viel grimmiger. Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir zwei Fragen in den Sinn: Erstens, wozu dienten die echten Geschichten? (Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben, und ich habe gehört, dass ihre Wurzeln so tief reichen, dass sie geradezu prähistorisch sind), und zweitens, warum wurden sie verschlimmbessert? Wir können nicht alles auf den armen Walt schieben.

Die Zensur des 19. Jahrhunderts

Der Reformimpuls des 19. Jahrhunderts hat viel Schaden angerichtet. Das ist ein großes Thema, aber im Moment konzentriere ich mich darauf, wie die Verwalter der Literatur den Geschmack kleiner Mädchen zu einem Nadelöhr machten, durch das alles passieren konnte. Der Haushalt, einst eine politische und wirtschaftliche Institution, wurde durch die industrielle Revolution und den Aufstieg des Wohlfahrtsstaates seiner Funktionen beraubt. Aber seine Befürworter interpretierten ihn neu und verwandelten ihn in den sicheren Hafen, den wir heute kennen, einen Ort der Gefühle und der Zärtlichkeit, einen Kult um Heim und Herd. Und Geschichten von Kindern, die zerstückelt und in Töpfe geworfen wurden, wollte man nicht mehr hören. (Nicht nur die Volksmärchen litten unter dem Messer, sondern auch die Bibel. Man weiß nicht, wie viele Jungen in der kirchlichen Sonntagsschule wegen der Flanellbilder verloren gingen. Mark Twain war einer davon.). Aber wenn Dinge, die einen vergessenen Zweck erfüllen, verloren gehen, kehren sie in neuer Form zurück.

Das Erhabene

Ich erinnere mich an ein Time Life-Buch, das wir als Kind hatten. Es enthielt diese erstaunliche ausklappbare Illustration von Rudolph Zallingers „Das Zeitalter der Reptilien“. Ich fühlte mich fast unwillkürlich davon angezogen, und sobald ich es aufschlug, sah ich den Tyrannosaurus Rex, den König der Dinosaurier, vor mir: dieses große, zähnefletschende Maul, diese donnernden Schenkel, diese winzigen Arme, die so seltsam liebenswert und nutzlos waren.

Was hat es damit auf sich?

Warum lieben kleine Jungs (meistens) dieses Zeug? Edmund Burke wusste es. Er hatte einen Namen dafür. Er sagte, dass wir uns nach dem Erhabenen sehnen. Hier ist, was er über das Erhabene sagt, aus seinem Werk „A Philosophical Inquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful“ (1757).

(Es ist) … alles, was in irgendeiner Weise geeignet ist, die Vorstellung von Schmerz und Gefahr hervorzurufen … alles, was in irgendeiner Weise schrecklich ist oder sich auf schreckliche Gegenstände bezieht oder in einer Weise wirkt, die dem Schrecken entspricht. Die Quintessenz ist folgende: Aus unerklärlichen Gründen fühlen wir uns zu großen, mächtigen, gleichgültigen und schrecklichen Dingen hingezogen, die uns erdrücken könnten. Diese Erfahrung macht uns glücklich. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen nachts bei Gewitter auf der Veranda: Blitz! „Einundzwanzig, zweiundzwanzig…“ Bumm! „Puh, das war knapp!“, sagt man und grinst. Erhaben.

Das Christentum und das Erhabene

Die Bibel ist erhaben. (In Kinderbibeln würde man das allerdings nicht vermuten.) Von den Anfängen mit dem Geist Gottes, der über dem bodenlosen Meer brütet, über die Sintflut Noahs, über den wirklich merkwürdigen Moment, als Gott mit Abraham einen Bund schließt, über den Herrn, der an Mose vorübergeht, als er in der Felsspalte Zuflucht sucht, (und ich bin noch nicht einmal aus dem Pentateuch heraus), bis zum Wirbelsturm bei Hiob, bis zum Herrn, der durch das Meer watet und auf dem Sturm reitet in den Psalmen, bis zum Zertreten der Weinlese in seinem Zorn, bis zum großen Fisch, der aus der Tiefe auftaucht, um den Propheten zu verschlingen – das sind bewegende Dinge. Aber wir haben die Bibel zurechtgebogen. Es ist nicht das erste Mal, dass C. S. Lewis beklagt, dass in der Synchronizität des mittelalterlichen Kosmos etwas verloren gegangen ist. Das Christentum neigt dazu, in seinem Drang, die Dinge in Ordnung zu bringen, zu weit zu gehen. Und selbst wenn wir einen Blick auf den Gott erhaschen, der in der dichten Dunkelheit wohnt, verwandeln wir ihn in etwas so Süßes, dass sich mir der Magen umdreht.

Christen mit einer Vorliebe für das Erhabene haben einen theologischen Namen dafür, es ist das starke Getränk im Schrank des reifen Christen, das manche das Numinose nennen. (Ich ziehe mysterium tremendum vor.) Soren Kierkegaard, John Milton und J. R. R. Tolkien hatten alle eine Vorliebe dafür.

H. P. Lovecraft und das Erhabene für Atheisten

Aber als die moderne Kosmologie uns den Himmel öffnete, so dass wir ihn und uns selbst neu sehen konnten, fanden die literarischen Liebhaber des Erhabenen etwas Neues, mit dem sie arbeiten konnten. Vielleicht ist H. P. Lovecraft ihr Vater. (Wenn nicht Lovecraft, weiß ich nicht, wer es sonst sein könnte, vielleicht H. G. Wells?)

Ob Lovecraft nun der Vater ist oder nicht, er hat viele Kinder. Einige der populärsten Autoren der heutigen spekulativen Literatur halten ihn für den Meister. Hier ist eine kurze Liste: Neil Gaiman, China Meiville und Stephen King. Keine schlechte Liste von Anhängern für einen Mann, der in der Dunkelheit lebte und mittellos und halb verhungert starb. Ich habe an anderer Stelle über Lovecraft und seine unheimliche, spiegelbildliche Beziehung zu C.S. Lewis geschrieben. (Sogar Lovecraft-Fans scheinen mir zuzustimmen.) Beide sind heute literarische Kultfiguren, und zusammen mit Tolkien bilden sie die Grundlage für den größten Teil der fantastischen Literatur, die heute auf dem Markt ist. Natürlich gibt es einen großen Unterschied in der Weltanschauung zwischen Lewis und Tolkien auf der einen und Lovecraft auf der anderen Seite. Lovecraft war Atheist. Aber das sollte nicht über die Gemeinsamkeiten hinwegtäuschen. Sie alle geben uns das Gefühl, klein zu sein.

Kosmizismus

Für Tolkien war es die nordische Mythologie, für Lewis die Planeten des mittelalterlichen Kosmos, aber für Lovecraft war es die schreckliche Unermesslichkeit und das Geheimnis des Kosmos, wie es die Wissenschaft enthüllt. Er nannte es Kosmizismus. Er stellte es seinen Lesern im ersten Absatz einer seiner größten Erzählungen vor: Der Ruf des Cthulhu,

Das Barmherzigste an der Welt ist, glaube ich, die Unfähigkeit des menschlichen Geistes, alle seine Inhalte miteinander in Beziehung zu setzen. Wir leben auf einer ruhigen Insel der Unwissenheit inmitten der schwarzen Meere der Unendlichkeit, und es war uns nicht bestimmt, weit zu reisen. Die Wissenschaften, von denen jede in ihre eigene Richtung strebt, haben uns bisher wenig Schaden zugefügt; aber eines Tages wird die Zusammenfügung unzusammenhängenden Wissens so erschreckende Aussichten auf die Wirklichkeit und unsere schreckliche Lage in ihr eröffnen, dass wir entweder vor der Offenbarung verrückt werden oder vor dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen dunklen Zeitalters fliehen werden.

Viele von Lovecrafts Geschichten enden mit einem Abstieg in den Wahnsinn. Und Lovecraft zeichnet sich dadurch aus, dass er uns das gibt, was Tolkien uns gegeben hat: eine in sich geschlossene (soweit das möglich ist) Nebenwelt, bevölkert von Wesen, die so gewaltig und gleichgültig gegenüber der Menschheit sind, wie der Kosmos es zu sein scheint. Der Grund, warum Lovecraft einer der ganz Großen ist, liegt nicht darin, dass er sich als Stilist hervortat; er ist groß, weil es ihm gelang, seine Leser die Macht des Erhabenen spüren zu lassen.

Zwei Gedanken zum Schluss: Erstens glaube ich, dass es immer Märchen, Mythen und unheimliche Literatur (Lovecrafts Lieblingsbegriff) geben wird, weil sie die zugänglichsten literarischen Formen sind, um das Erhabene auszudrücken. Man kann sie entstellen, wie man will, das Erhabene wird einfach neue Formen finden und mit Macht zurückkehren.

Aber zweitens, und hier würde sich Lovecraft zurückhalten, glaube ich, dass die Sehnsucht nach dem Erhabenen eine Sehnsucht nach Gott ist, nach dem Geheimnis, das uns erschauern lässt. Nicht dieses rührselige Idol, das in einem Lobgesang als Gott durchgeht, ich meine den Gott Abrahams, Hiobs und Jonas. Herr der Heerscharen ist sein Name. Das ist ein starkes Getränk und nur für Erwachsene.

Die Phantome des Franz Hellens

Von Franz Hellens ist heute kaum noch mehr als dieses traurige Gemälde zu finden, das Modigliani gemalt hat, der als Künstler bekannter ist als sein Modell. 1881 in Brüssel geboren, und für den Dienst an der Waffe für untauglich befunden, ließ er den ersten Weltkrieg in Nizza vorbeiziehen, wo er auch Modigliani begegnete, und seiner zukünftigen Frau Maria Marcovna. In einem späteren Buch voller Aufsätze und Erinnerungen mit dem Titel Geheime Dokumente, erzählt Hellens, wie Modiglini das Portrait in ein paar wenigen Stunden aufs Papier geschleudert hatte, während, unterbrochen von gelegentlichen Spaziergängen an der frischen Luft, drei Liter Wein durch seine Kehle rannen. Hellens und Maria waren von dem Portrait nicht begeistert. Er beschreibt seinen Eindruck in einer seiner besten Geschichten, Der Hellseher:

„… es war lebendig, lebhaft; ‚es sprach‘, wie manche Kenner sagen würden. Aber es hatte wirklich keine Ähnlichkeit.
Es muss gesagt werden, dass der Maler nicht für einen einzigen Augenblick daran dachte, dem Gesicht, das er vor sich hatte, zu schmeicheln. Es war seltsam in die Länge gezogen; das Oval des Gesichts derart zu strecken hebt ohne Zweifel eine charaktervolle Schlankheit hervor, einen Charakter aber, der nicht dem meinen entspricht. Außerdem hatte er die Schultern völlig weggelassen, so dass das wenige, das auf dem Portrait vom Körper zu sehen ist, noch weiter zum Fehlen des Volumens beiträgt, wie es nicht von dem, der ihm saß, stammen konnte. Letztlich sind die wenigen Falten, die damals bereits mein Gesicht zierten, übertrieben dargestellt worden. Das Portrait atmet eine geistige und körperliche Erschöpfung, gerechtfertigt durch das schwierige Leben, das ich bis dahin gelebt hatte. Trotz allem war ich am meisten von diesem jugendlichen, sogar kindlichen Ausdruck beeindruckt, genauso unverhältnismäßig und paradox wie der Rest, der sich aus der absichtlichen Fragilität der Konstruktion ergibt. Da war auch noch etwas anderes, das ich allerdings nicht erklären konnte.“

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Die Gasse der dunklen Läden / Patrick Modiano

In Patrick Modianos Erzählungen dreht sich fast alles um die Erinnerung, dieser schwer fassbaren Eigenschaft.

“Ich bin nichts” lautet dann auch der erste Satz in “Die Gasse der dunklen Läden” von 1978. In Modianos Welt bestehen wir aus unseren Erinnerungen, unserer Geschichte, den Geschichten, die wir über unser Leben konstruieren. Wenn wir uns nicht daran erinnern, wer wir sind, sind wir dann überhaupt?

Der Protagonist Guy Rolland verlor vor 15 Jahren bei einem mysteriösen Unfall sein Gedächtnis, bis ihn der Privatdetektiv Hutte bei sich eine Anstellung verschaffte.

Als Hutte sich zur Ruhe setzt und nach Nizza zieht, übernimmt Guy die Aufgabe, herauszufinden, wer er wirklich ist, denn sein augenblicklicher Name ist nur eine künstliche Identität.

Mit Hilfe von Fotos, kleinen Hinweisen, Telefonbüchern und Gesprächen mit verschiedenen Personen setzt er sein Leben langsam zusammen, aber es ist eine verschlungene Straße mit vielen Löchern. Jeder Hinweis führt zu einem anderen; manchmal denkt er, er habe herausgefunden, wer er ist, nur um kurz darauf Beweise dafür zu finden, dass er doch ein anderer ist. Ist er Pedro Stern oder McEvoy? Wie lautet der Name der Frau auf dem Bild, die er wiedererkennt? Warum sind sie aus Paris geflohen? Es häufen sich die Fragen und es gibt kaum Antworten. Guy tappt im Dunkeln, in einer fast filmischen und traumhaften Welt, bevölkert von einer Vielzahl mehr oder weniger seltsamer Figuren. Auf der Grundlage der wenigen Informationen beginnt Guy, eine Geschichte zu erzählen, aber ist es wirklich so gewesen oder erzählt er sie nur, um zumindest eine eigene Geschichte damit festzuhalten?

Das Buch wird langsamer, als er beginnt, die scheinbar endlosen Hinweise auf das Rätsel um seine Identität zu lösen, und der Roman verwandelt sich von einem Detektivroman in einen Roman der Reflexion und Kontemplation, als Guy erkennt, dass der Schlüssel zur Entdeckung seines vergangenen Lebens von der Besatzung Frankreichs abhängt.

Modianos Stil ist einerseits klar in seinen Abläufen, und noch präziser, wenn er sich damit befasst, zu erkunden, wie das Gedächtnis funktioniert und was den Erinnerungsmechanismus jeweils auslöst. Und so erinnert der Roman an die Filme von Alain Resnais (Letztes Jahr in Marienbad, dessen Drehbuch Alain Robbe-Grillet verfasste), die die Beziehung zwischen Bewusstsein, Erinnerung und Vorstellungskraft erforschen.

“Die Gasse der dunklen Läden” ist ein melancholischer und unheimlicher Roman mit einer Rahmenhandlung, die genauso gut ein sehr konventioneller Krimi hätte werden können. Die fragmentierte Erzählung und die umgekehrte Chronologie machen ihn jedoch alles andere als konventionell. Wie üblich schreibt Modiano mit einer begnadeten leichten Hand. Schnell kann es deshalb sein, die kleinen wunderbaren Details in der Sprache und den Beschreibungen der Umgebung zu verlieren. Einige Kapitel sind nur eine Seite lang und bestehen aus Listen mit Namen, Adressen und Telefonnummern. Aber selbst in diesen Listen gelingt es ihm, die Poesie des Verlorenen sprechen zu lassen.

Modiano beschäftigt sich oft mit der tückischen Natur der Erinnerung und ihren Unzulänglichkeiten. Für ihn sind sowohl die Erinnerung als auch die Identität fließend und flüchtig, sie verändern sich ständig.

Für diesen Roman erhielt Modiano 1978 den renommierten Prix Goncourt für die nahtlose Integration des Psychologischen und Existenziellen in das oft formelhafte Genre der Detektivliteratur. Er ist ebenso erfreulich wegen seiner erwartbaren Szenen voller Spannung und Geheimnis als auch wegen der oft tiefgründigen Analyse von Identität und Erinnerung, die alle in unverblümter, geradliniger Ego-Prosa präsentiert werden, die der von Meursault in Albert Camus’ “Der Fremde” nicht unähnlich ist. Wie seinem Nobelpreisträger-Kollege gelingt es ihm, die komplexen Themen, die er behandelt, zugänglich zu gestalten, während andersherum die zahlreichen Charaktere und Anekdoten unüberschaubar bleiben.

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