Possenspiele

Schlagwort: Literatur (Seite 63 von 84)

Das Meer kam um Mitternacht / Steve Erickson

Obwohl wir die Zeit als linearen Fluss nach vorne erleben, in dem eine unerbittliche Sekunde nach der anderen von der Uhr läuft, kennt unser Gedächtnis keine derartigen Einschränkungen. Die Literatur von Steve Erickson auch nicht. Vielleicht dringen seine Bücher deshalb derart in die Psyche ein, als ob sie sich von unten nach oben graben würden, anstatt vom Leser aus der Vogelperspektive gesehen zu werden. Das Lesen selbst ist ein Akt, der der Erfahrung des Erinnerns sehr nahe kommt, und wenn man einen Roman von Erickson liest, wird die Unterscheidung zwischen beidem vernachlässigbar. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen und führen durch eine Art Prosa-Wurmlöcher zueinander. Charaktere gleiten vor dem Leser her, verfolgen ihn, werden gar zu ihm selbst. Identität ist eine Sache des Augenblicks, und in der Erinnerung können Geschehnisse kunstvoll neu arrangiert werden. Und selten wurden sie so kunstvoll arrangiert wie in Steve Ericksons Das Meer kam um Mitternacht. Ericksons Labyrinth einer Geschichte ist zugleich schwungvoll, bewegend, und extrem suggestiv. Die eleganten Schleifen und Spiralen fesseln den Leser durch Erinnerungen, die so klar sind, dass sie aus einen unbelebten Teils des Lebens des Lesers selbst zu kommen scheinen.

Wie im Leben, so wird auch dieser Roman weniger gelesen als miterlebt. Kristin, die zuerst aus einem kleinen Inselstädtchen im Sacramento River Delta geflohen ist, begegnet auf ihrer Flucht einem Kult, der nur noch eine weitere Frau braucht, um am 31. Dezember 1999 um Mitternacht mit ganzen 2000 Personen von einer Klippe in den Tod zu springen. Sie entkommt jedoch und löst damit eine Kettenbreaktion aus, die den Roman über vierzig Jahre hinweg in der Zeit hin- und herbewegen lässt. In der muschalartigen Architektur des Romans findet der Leser Kristin versklavt von einem von der Apokalypse besessenen, aber ansonsten anonym bleibenden Mann, der sich in einem Vorort in Südkalifornien aufhält, einem Traum-Kartographen, einem Porno-Filmemacher und einem Arbeiter in einem rotierenden Erinnerungshotel in Tokio … wer nicht weiß, was das ist, wird Überraschendes hierüber und auch über Traumkapseln in Erfahrung bringen.

Erickson zieht den Leser gekonnt mit einer trotz der Komplexität des Themas verständlichen, transparenter Prosa in das Geschehen hinein, indem er mühelos Figuren erschafft, die lebendig sind: Kristin, Der Bewohner, Lulu Blue, Carl der Kartograph, um nur einige zu nennen – multiplizieren sich, verwischen die Grenzen, verschmelzen und dämmern aus einer rekursiven Chronologie herauf. Kristins Geschichte entfaltet sich Seite für Seite, überlagert und verzahnt sich mit anderen Figuren und anderen Geschichten. Ericksons mehrschichtige Herangehensweise an die Charakterbildung stellt sicher, dass der Leser eindrückliche Offenbarungen erlebt, während sich die komplexen Beziehungen langsam entfalten, um in einem Moment klar aufzuleuchten. Hat man den Roman beendet, bleiben diese Figuren mit ihren Details genauso in der Erinnerung haften wie jene Menschen, die man einst kannte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Ericksons komplexe Handlung selbst eine Figur in diesem Roman ist. Er verbindet die intensiven und persönlichen Momente mit gewaltigen Bewegungen, die aus einer Leinwand aus Raum und Zeit besteht.

Von Paris bis Japan, von den 1960er Jahren bis ins Kalifornien nach der Jahrtausendwende springt die Handlung großartig und mühelos von einem Höhepunkt zum anderen. Die wahre Freude an diesem Roman besteht dann auch darin, jedem einzelnen dieser Gipfel zu folgen, um herauszufinden, wo und wann Erickson seinen Fokus verlagern wird. Erickson operiert mit seinen Bruchstücken und Sprüngen auf der unangreifbaren Basis der Intuition, wodurch der Roman zwar einen improvisatorischen Charakter bekommt, aber eben von jener Art, die das Ergebnis zu einer perfekten Kunstform machen.

Bei aller Intensität und Improvisation, seiner Handlung und seiner eigenwilligen Chronologie ist Ericksons eigentliche Prosa trotzdem leichtfüßig und angenehm zu lesen. Er zeigt einen schön zurückhaltenden Sinn für Humor und eine Liebe zur Sprache, die sich in denkwürdigen Witzen und Phrasen äußert. Wenn der Leser sich dem Chaos hingibt und auf der Welle der Worte reitet, dann ist „Das Meer kam um Mitternacht“, das bei uns schon seit 2002 vorliegt, ein wilder und eindrucksvoller Ritt, ein Rausch von der ersten Seite an. Das Buch verdient es, in einem einzigen Zug gelesen zu werden.

Der zweite Reiter / Alex Beer

Der zweite Reiter von Alex Beer erschien 2017 im Limes-Verlag. Mittlerweile hat die Reihe sechs Titel aufzuweisen, die in die Kerbe von Kriminalgeschichten zwischen den beiden Weltkriegen schlagen. Das ist im Augenblick eines der interessantesten Settings, an dem sich eine Menge Autoren versuchen. Nicht allen gelingt das gleichermaßen gut, aber man findet dennoch eine Menge erstaunliches und gut recherchiertes Zeitgeschehen in diesen Romanen.

Wo zum Beispiel Volker Kutscher die Weimarer Republik und die beginnende Gefahr des Nationalsozialismus als Kulisse dient, nimmt sich Alex Beer das Wien nach dem ersten Weltkrieg vor, was im Grunde kein Wunder ist, schließlich lebt die Autorin Daniela Larcher (die hier ein Pseudonym verwendet) in der österreichischen Hauptstadt.

Romane wie Der zweite Reiter in dieser Zeit anzusiedeln ist äußerst Recherche-intensiv. Das trifft zwar auf historische Romane immer zu, aber hier ist es besonders heikel, den richtigen Ton zu treffen und das Kriegselend, oder die unfassbaren Zustände so anzulegen, dass sie nicht nur glaubwürdig sind, sondern auch die Möglichkeit besteht, eine interessante Geschichte zu erzählen. Man findet also schnell heraus, dass Alex Beer ganz eigene Wege geht. Die Sprache ist wie in vielen Krimis ziemlich einfach gehalten, etwas reißbrettartig vielleicht, und dennoch überrascht Der zweite Reiter, weil der Roman an manchen Stellen in seiner Tragik der geschilderten Epoche sogar burlesk wirkt. Zum Beispiel, wenn Emmerich, der Rayonsinspektor (ein alter österreichischer Dienstgrad, im Grunde kaum mehr als ein Wachmann mit polizeilichen Befugnissen für einen bestimmten Bezirk) besoffen in der Gosse liegend, nur in Unterhosen aufgegriffen und ins Spital gebracht wird, wo er sich davonschleicht und gerade so einen unpassenden Arztkittel und dazu noch klumpige Kriegsstiefel findet und mitgehen lässt. Letztere verursachen einen Heidenlärm auf dem Boden. Natürlich will er aus dem Krankenhaus fliehen, bevor seine Identität geklärt werden kann, was zu seinem peinlichen Rauswurf als Inspektor führen könnte. Zufällig gerät er in diesem unmöglichen Aufzug in ein Seminar für angehende Doktoren, besorgt sich irgendwie noch Herointabletten gegen seine Schmerzen – er ist Kriegsversehrter -, und erscheint so wie er gerade ist in seiner Dienststelle, weil er verdammt noch mal keine anderen Klamotten hat. Immer wieder versucht er trickreich, sein armseliges Leben zu bewältigen, an der Seite einen jungen Assistenten, der den nötigen Kontrast zu ihm darstellt, so dass sich auch hier stets spaßige Situationen ergeben, während um die beiden Ermittler herum alles im Argen liegt.

Die Figurenzeichnung verlässt kaum den Rahmen, der an Karikaturen erinnert, eine größere Tiefe scheint hier nicht intendiert, und dennoch zieht sich das Lokalkolorit durch die ganze Geschichte (vor allem hörbar im gesprochenen Dialekt, den die Autorin dem Leser zuliebe nur den Nebenprotagonisten in den Mund legt).

Der Humor funktioniert und macht das erste Abenteuer des Wiener Ermittlers so anziehend, weil es kein aufgesetzter Humor ist, sondern weil er aus dem Leben selbst resultiert, das elendig genug ist.

Tragödie und Komödie sind Zwillinge und wechseln sich hier durchaus gekonnt ab.

In der zweiten Hälfte des Buches fällt zwar nicht all das Erreichte in sich zusammen, aber die Kurve geht doch deutlich nach unten und nimmt das Niveau eines Fernsehkrimis an. Die zur Schau gestellte Naivität fällt deshalb besonders ins Gewicht, weil die Autorin ihre Geschichte – auch wenn sie wie ein Scherenschnitt wirkt – in ein gut recherchiertes Ambiente einbindet. Larcher operiert hier mit ein paar Stereotypen, die allerdings dennoch funktionieren, auch wenn man sich vielleicht kurz ärgert.

Unterm Strich bleibt ein etwas unausgegorener historischer Krimi, der zwar keinesfalls nach unten ausschlägt, aber eben auch nicht nach oben. Für den österreichischen Leo-Perutz-Preis für Wiener Kriminalliteratur im Jahre 2017 hat Der zweite Reiter dennoch alles richtig gemacht, und das ist, trotz der Mäkelei, völlig in Ordnung. Vor allem, weil der Ton des Romans Spaß macht und die Atmosphäre stimmt.

Realität im Extremzustand

Meine Definition von Phantastik, mit der ich hantiere ist folgende: Phantastik ist Realität im Extremzustand. Glücklich bin ich mit dem Begriff der „Phantastik“ – so paradox es klingen mag, ein rein deutsches Unwort, das sich aber gut anhört, nicht. Das liegt nicht am Wort selbst, sondern an der – für mich – blödsinnigen Konstruktion, das Wort auf die drei Säulen „Horror“, „Science Fiction“ und „Fantasy“ zu stellen. Würden wir die Phantastik als ein Synonym der Spekulativen Literatur ausgeben, hätte ich allerdings gar keine Einwände. Denn dann würden wir die „drei Säulen“ um den „Magischen Realismus“, die „Alternative Geschichtsschreibung“ und die „wissenschaftliche Fantasy“ erweitern können. Weitere völlig unklare Begriffe, versteht sich. Aber „Horror“ und „Science Fiction“ gehören für mich nur bedingt zu unserer Vorstellung von Phantastik.

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