Possenspiele

Schlagwort: Literatur (Seite 68 von 84)

Mainstream-Mainstreet

Die Mainstream-Literatur hat mit ihrem Nobelpreis-Skandal einen Schlag in die Fresse bekommen, den ich ziemlich amüsiert zur Kenntnis genommen habe. Damit wird dieser Käse aber wohl nicht endlich beendet sein, der Mainstream lechzt schließlich nach Preisen. Apropos Preise: Das Phantastikon hat den Vincent Sonderpreis in diesem Jahr nicht gewonnen. Da dies ein Publikumspreis ist, war das auch nicht wirklich zu erwarten.

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Geschichten in Geschichten in Scott Lynchs Gentelman-Bastard-Serie

Geschichten in Geschichten. Dies ist eine der ältesten Strukturen des Geschichtenerzählens, die bis ins alte Ägypten reichen. Allein der westliche Kanon hat – beginnend bei den Canterbury-Erzählungen über Hamlet bis zu Italo Calvons Unsichtbaren Städten – eine Fülle namhafter Werke hervorgebracht, die dem Reiz, Narrative ineinander zu schachteln, nicht widerstehen konnten. Autoren spekulativer Literatur wie Margarete Atwood oder Neil Gaiman sind ebenfalls in der Lage, diese Disziplin anzuwenden und dadurch mit einer wunderbaren Wirkung zu versehen.

Scott Lynch mag noch nicht ganz in dieser Elitegruppe mitwirken, aber es mangelt ihm weder an Talent noch an Ambitionen. Seine Gentleman Bastard-Serie (Die Lügen des Locke Lamora; 2006, Sturm über roten Wassern; 2007, Die Republik der Diebe; 2013 – und vier weitere geplanten Romane) besteht aus umfangreichen Büchern. In ihnen leben ein Gauner namens Locke Lamora und sein bester Freund, der Trickbetrüger Jean Tannen, in der flirrenden Metropole Camorr, die stark an das mittelalterliche Venedig erinnert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich dieses Werk nicht von anderer zeitgenössischer Epic Fantasy, die George R. R. Martin oder Joe Abercrombie schreiben. Aber Lynch bringt in Die Republik der Diebe eine weitere Dimension in sein witziges, freches, pikareskes Epos ein: eben jene Geschichte in einer Geschichte, die mit Eleganz und Komplexität vorgetragen wird.

Es mag etwas seltsam erscheinen, über einen dritten Band vor den beiden ersten zu sprechen, aber es ergibt Sinn, wenn es um die Gentleman Bastard-Serie geht. Lynch springt chronologisch gesehen in jedem Buch viel herum und berichtet uns von der Zeit, als Locke und Jean als Jungen unter dem Meisterdieb Vater Chains studierten, bis hin zur langsamen Aufklärung des alten Geheimnisses, welches das Herzstück von Camorrs fremdartiger Architektur ist. In der Republik der Diebe gibt es viele parallele Storylines, aber es gibt auch ein Theaterstück im Roman: Caellius Lucarnos Theaterklassiker, auch Die Republik der Diebe genannt, ist hier eines von vierzig Fragmenten, ein Drama, das von einem untergegangenen Reich geborgen wurde, ähnlich einem Werk griechischer Dramatiker, das in die reale Renaissance einfloss.

Die Republik der Diebe ist nicht das einzige Lucarno-Werk, das in der Gentleman Bastard-Serie erwähnt wird. Zeilen aus dem Stück „Die Hochzeit des Assassinen“ werden in Sturm über roten Wassern zitiert; Jean offenbart sich als begeisterter Fan der gesammelten Werke des Mannes und ist bereit, leidenschaftlich und spontan über Lucarnos rechtmäßigen Platz im antiken Pantheon zu sprechen. In gewisser Weise ist Jean ein Lucarno-Geek – so wie viele Fantasy-Leser in den letzten zehn Jahren zu Lynch-Geeks geworden sind.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Ja, Lynch schreibt Geschichten in Geschichten, faltet Rückblenden in Rückblenden und kreiert Geheimnisse in Geheimnissen. Aber er kreiert auch eine abgedrehte Buddy-Serie und einen höllischen Heist-Thriller. Abgesehen von seinem komplizierten Rahmen, beginnt die Gentleman Bastard-Serie mit der warmen, kämpferischen, brillant geschriebenen und manchmal geradezu herzzerreißenden Beziehung zwischen Locke und Jean, zwei Jugendfreunden, die zu zwei sehr unterschiedlichen Männern herangewachsen sind, die jedoch durch Kameradschaft und die Befriedigung über einen gelungenen Betrug, tief miteinander verbunden sind. In Die Lügen des Locke Lamora geraten sie in einen Machtkampf innerhalb des kriminellen Untergrunds von Camorr, der sie auch hervorgebracht hat; in Sturm über roten Wassern fliehen sie aus Camorr, um ihr Glück im fernen Land Tal Verrar zu suchen, wo Lynch sein Ocean‘s Eleven mit peitschenknallender Piraterie vermischt – und wie durch ein Wunder greift alles ineinander.

Lynch ist nicht der einzige aktuelle Fantasy-Autor, der Geschichten in Geschichten erzählt – das Beispiel, das einem sofort in den Sinn kommt, ist Patrick Rothfuss‘ exquisit gerahmte Kingkiller Chronicle-Serie. Lynch stellt jedoch noch größere Fragen über die Natur der Wahrheit. Was ist eigentlich wahr? Sollte die Wahrhaftigkeit nicht eher auf die überzeugendste Version der Ereignisse als auf die langweilige alte Realität ausgerichtet sein? Was ist mit der Geschichte, sowohl der kulturellen als auch der persönlichen? Ist das nur eine andere Art, sich selbst zu täuschen? Um unsere Identitäten zu fälschen? Wenn die Summe der Zivilisation – und von uns selbst – einfach ein Rätsel von Geschichten in Geschichten ist, wo bleiben wir dann? Es gibt viel zu tun in einer Fantasy-Serie, gerade in einer so breitgefächerten und tiefgründigen wie dieser. Aber wenn Lynch uns bisher etwas gezeigt hat, dann dass Locke und Jean – so bescheiden die Lügner auch sein mögen – der Aufgabe mehr als gewachsen sind.

Julio Cortázar: Vertrautheit des Phantastischen

„Was nützt ein Schriftsteller, wenn er die Literatur nicht zerstören kann?“

Die Frage stammt aus Julio Cortázars Roman Rayuela aus dem Jahr 1963, dem dichten, schwer fassbaren und raffinierten Meisterwerk, das gleichzeitig ein hochmodernes Spiel  um das eigene Abenteuer ist. Es enthält eine einführende Anweisungstabelle: „Dieses Buch besteht aus vielen Büchern“, schreibt Cortázar, „aber vor allem aus zwei Büchern.“ Die erste Version wird traditionell von Kapitel eins an durchgelesen, die zweite Version beginnt bei Kapitel dreiundsiebzig und schlängelt sich durch eine nichtlineare Sequenz. Beide Lesemodi folgen dem weltmüden Antihelden Horacio Oliveira, Cortázars Protagonist, der von den lauen Gewissheiten des bürgerlichen Lebens enttäuscht ist und dessen metaphysische Erkundungen das Gerüst einer wogenden, höchst komischen Existenzkapriole bilden. Cortázar sagte lakonisch: „Ich bin auf der Seite der Fragen geblieben.“ Aber es war der formale Wagemut des Romans – seine verzweigten Wege -, der auf die hartnäckigste und persönlichste Anfrage des argentinischen Autors hinwies: Warum sollte es nur eine Realität geben?

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