Possenspiele

Schlagwort: Schauerliteratur (Seite 19 von 27)

Diese Rubrik vereint die Analyse und Beschäftigung mit der unheimlichen Literatur als Ganzes. D.h., dass auch „strange story“, „weird fiction“, „pure horror“, „geistergeschichte“ und sogar manche Phasen der „crime fiction“ und der „gothic novel“ hier einfließen.

Stephen King Re-Read: Shining

Wenige Bücher zelebrieren derart die Innenschau wie The Shining. Die Situation war folgende: Ein dem Alkohol zugetaner Lehrer, der eine Familie zu versorgen hat, schreibt sich also zunächst in eine finanzielle Sicherheit hinein, um dann über einen dem Alkohol zugetanen Lehrer zu schreiben, der eine Familie zu versorgen hat und daran scheitert, sein Talent sinnvoll einzusetzen und in der Folge seine Familie umbringen will.

Inspiriert von einem Alptraum, den Stephen King während eines kurzen Aufenthalts im Stanley Hotel in Colorado hatte, das am nächsten Tag seine Pforten für die Saison schließen sollte, ist The Shining sein erstes Buch, das er aus einer finanziellen Stabilität heraus auf den Weg brachte. Die Folgeauflagen von Carrie und Brennen muss Salem waren beschlossene Sache, die Taschenbücher verkauften sich gut, ein Vertrag mit Doubleday über weitere Bücher war unterschrieben, und er konnte es sich nun leisten, mit seiner Familie nach Boulder zu gehen. Stephen King war also bereit. Und was tat er? Er öffnete sich gänzlich und blutete förmlich über alle Seiten, die er schrieb.

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Die seltsamen Geschichten des Robert Aickman

Robert Aickman ist selbst in seinem Heimatland England ein vergessener Autor. Der 1914 geborene und 1981 an Krebs gestorbene Schriftsteller ist für Peter Straub der “tiefgründigste Verfasser” von Horrorstories des 20. Jahrhunderts. Eine Leserschaft, die ihn über den Kultstatus hinaus brachte, fand er zu seinen Lebzeiten nicht. Der  renommierte britische Verlag Faber & Faber hat das zu Aickmans Hundertsten Geburtstag 2014 geändert und veröffentlichte eine Sammlung seiner lang nicht mehr in Druck befindlichen Erzählungen.

Robert Aickman
Robert Aickman; (c) R. B. Russel

Bei uns brachte der DuMont-Verlag zu Beginn der 1990er Jahre zwei schmale Büchlein mit willkürlich zusammengestellten Geschichten heraus und bis zum heutigen Tag galt es als ziemlich unwahrscheinlich, dass wir mehr von diesem brillanten Autor bekommen. Doch manchmal geschehen tatsächlich Wunder, und so hat sich der Festa-Verlag der Sache angenommen und bringt in 6 Bänden die Werke des englischen Genies heraus.

48 strange stories, wie er seine Geschichten selbst nannte, sind von Robert Aickman bekannt. Für seine “Pages from a Young Girl’s Journal” bekam er 1975 den World Fantasy Award.

Um Aickman zu verstehen, muss man viel Aickman lesen. Laird Barron sagte, dass dies Arbeit bedeute. Man kehrt zu seinen Geschichten zurück, sucht nach einem Zugang, einer Nahtstelle oder dem versteckten Haken. Und sobald man ihn glaubt, gefunden zu haben, wird man später, wenn man wieder zu diesen Geschichten zurückkehrt, bemerken, dass sich alles verändert und verschoben hat. Aickman ist einer jener raren Autoren, die einen Virus im Gehirn hinterlassen. Mit diesem Autor zu interagieren, bedeutet, eine Art der Quantenverschränkung zu erleben. Seine Geschichten nehmen das Unterbewusstsein und mutieren es in einer Weise wie es die Aufgabe transgressiver Literatur ist.

Aickman assistierte seinem Vater in dessen Architekturbüro, bevor er 1944 seine eigene Firma gründete. 1951 veröffentlichte er ein Buch mit Kurzgeschichten zusammen mit seiner Sekretärin Elizabeth Howard, zu dem er drei Erzählungen beitrug.

Dark Entries

1964 wurde seine erste eigene Sammlung veröffentlicht, “Dark Entries”. Zu seinen Lebzeiten erblickten weitere fünf Bände das Licht der Welt, sowie ein Roman und eine Autobiographie. Zwischen 1964 und 1972 war er als Herausgeber der ersten acht Bände der Serie “Fontana Book of Great Ghost Stories” tätig.  Posthum wurde eine letzte Sammlung, ein Roman und der zweite Teil seiner Autobiographie veröffentlicht. Seine besten strange stories wurden in dem Band “The Wine Dark Sea” (1988) und “The Unsettled Dust” (1990) veröffentlicht.

Aickmans Großvater war der viktorianische Schriftsteller Richard Marsh, der 1897 seinen Besteller mit “The Beetle” hatte (dt. “Der Skarabäus”), der sogar Bram Stokers Dracula auf die Plätze verwies.

In deutscher Übersetzung ist es natürlich noch schwieriger, etwas von Aickman zu finden, aber nicht aussichtslos. So sollte man nach “Glockengeläut” sowie “Schlaflos” aus DuMonts Bibliothek des Phantastischen suchen.

Aickmann war ein kultivierter Ästhet und befasste sich mit Ängsten, die auch jene Kafkas gewesen sein könnten, in einem präzisen, etwas erhöhten Stil, als ob er hinter einem Schleier der Gelehrsamkeit stünde, von wo aus er den Leser anspricht. Aber Aickman gehörte zu einer späteren Generation und war freier, so dass er die wirbelnden Ströme der Sexualität tiefer in seine eindringliche Geschichten einarbeiten konnte. So behält auch der Titel seines Buches “Dark Entries” etwas von der finsteren Doppeldeutigkeit des Nachtaktiven und Obszönen.

In Aickmans Geschichten wird niemals die vorrangige Natur des Merkwürdigen enttarnt, das seine Figuren belauert. Zur Hälfte sind diese an ihrem eigenen Untergang mitbeteiligt, wenn sie mit schlafwandlerischer Sicherheit ins Unbekannte gezogen werden wie in einen Traum.

Aickmans ‘seltsame Geschichten’ sind Geheimnisse ohne Lösung, jede endet mit einer wehmütigen Note über unsere zweifelhaften, unzulänglichen Kenntnisse, über die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit.

Marvin Keye schrieb in seinem Vorwort zur Anthologie “Masterpieces of Terror and the Supernatural”, die er herausgab, dass er zunächst zögerte, die Geschichte “The Hospice” (dt. “Das Hospiz”) in die Sammlung aufzunehmen, weil er nicht herauszufinden im Stande war, was sie aussagen wolle.

Die exemplarische Geschichte

“Glockengeläut” beginnt dann auch mit dieser exemplarischen Geschichte. Die beiden Bände der Bibliothek des Phantastischen, die einst bei DuMont erschienen, haben wir Frank Rainer Scheck zu verdanken, und auch wenn es zu Beginn der 90er üblich war, eine Mischung aus mehreren Originalveröffentlichungen zu präsentieren – was aus heutiger Sicht ein Ärgernis ist – können wir uns glücklich schätzen, überhaupt zwei schmale Bände in Übersetzung vorliegen zu haben, zumindest bis jetzt.

“Das Hospiz” ist wohl eine von Aickmans wichtigsten Geschichten. Auf relativ wenigen Seiten legt er Fragen des Übergangs, der Identität und des Handelns auf den Tisch. Die Veränderlichkeit der Wahrnehmung, das dünne Furnier von Loyalität und Sicherheit. Aickmans Arbeit stellt oft eine wichtige These der ganzen unheimlichen Literatur vor: Das Leben ist viel seltsamer, als wir annehmen. Er fragt oft, was wissen wir eigentlich? Die Antwort kann nur immer die gleiche sein: Nichts, und möglicherweise noch weniger. Man liest diese Geschichte sechs oder sieben Mal (vielleicht auch öfter), und kommt immer noch nicht dahinter. Das aber ist genau das, was sie beabsichtigt. Die besten Geschichten sind jene, die ins Unterbewusstsein kriechen und flüstern und rätselhaft bleiben. Sie führen uns in die Dunkelheit und lassen uns dort allein. Vielleicht finden wir wieder heraus, vielleicht auch nicht. Viele Geschichten von Kafka funktionieren so, viele von Cortàzar tun es ebenfalls – und natürlich die meisten von Aickman.

Aber Aickman ist keineswegs ein Avantgardist, der krude Rätsel für seine Leser zusammenspinnt. Das Hospiz ist in einer einfachen Sprache gehalten, fast flach, mit einem Minimum an Erschütterung und Bewegung: Ein Reisender verirrt sich auf einer Straße irgendwo in den West Midlands, kommt durch eine Siedlung, die aussieht wie im 19. Jahrhundert, mit hohen Bäumen und einsamen Häusern, sieht das Hinweisschild, das gutes Essen und andere Annehmlichkeiten verspricht, außerdem hat er fast kein Benzin mehr. Zu allem Überfluss wird er auch noch von etwas, das eine Katze gewesen sein könnte, ins Bein gebissen, als er kurz aussteigt, um sich grob zu orientieren. Dieser Biss, der sich vielleicht entzünden könnte, spielt im weiteren Verlauf nur die Rolle, dass er da ist und schmerzt. Das ist die erste Irreführung der Erwartungshaltung.

Im Hospiz wird er freundlich aufgenommen und kommt gerade richtig, um am Abendessen teilzunehmen. Die Schilderungen und Geschehnisse sind immer nur knapp neben einer gewohnten und erwarteten Reaktion, einer bekannten und nachvollziehbaren Szenerie, aber sie treffen niemals das Bekannte, das jemals Erlebte. Ihm wird also das Essen in mehren Gängen serviert, die exorbitant sind, gewaltig und unbezwingbar – und damit beginnt ein merkwürdiger Reigen, der sich zwar niemals ins Groteske zieht, aber einiges aus der Atmosphäre des Theater des Absurden schöpft.

Sexualisierte Metafiktion

Ein weiteres Beispiel einer Geschichte, die ihre Kraft durch das Wiederlesen erst entfaltet, ist “Ravissante” (französisch für bezaubernd oder hinreißend). Gleichzeitig ist diese faszinierende Erzählung eine von Aickmans Ungewöhnlichsten, die durchaus ins Perverse abdriftet. Der für Aickman typische introvertierte Erzähler macht auf einer Cocktailparty die Bekanntschaft eines Malers. Ein spröder und unnahbarer Mann, in seinem Auftreten eher enttäuschend, aber ein Maler mit einer gewissen Ausdruckskraft. Seine Frau ist noch kühler und uninteressanter, nur die Karikatur einer Frau, die fast nie etwas sagt. Der Maler stirbt und hinterlässt dem Erzähler sein gesamtes künstlerisches Schaffen, von dem er nur ein Gemälde und einen Stapel Briefe und Schriften behält. Was er nicht nimmt, wird von der Witwe verbrannt. Die eigentliche Erzählung beginnt, als der Erzähler eines dieser Papiere liest, das den Aufenthalt des Malers in Belgien dokumentiert. Der Inhalt bezeugt den Besuch bei der steinalten Witwe eines symbolistischen Malers.

Es ist offensichtlich, dass dieses Haus, in dem Madame A. lebt, auf einer anderen Realitätsebene existiert. Die Witwe selbst ist herrisch, das Haus schwach beleuchtet, und die Realität scheint einen unangenehmen, fließenden oder verschwommenen Aspekt anzunehmen. Madames Ausführungen sind merkwürdig und beklemmend, und als auch noch ein geisterhafter Pudel mit Spinnenbeinen durch den Raum streift, zieht Aickman die Schrauben des Unheimlichen an. Der Aufenthalt des Malers wird von Mal zu Mal bizarrer und erreicht seinen befremdlichen Höhepunkt, als Madame ihn einlädt, die Kleidung von Crysothème, der abwesenden Stieftochter, zu berühren und zu untersuchen, indem sie ihm Befehle gibt, darauf zu knien, darauf zu treten und die Wäsche zu küssen.

Der Maler gehorcht jedem dieser unmöglichen Schritte. Diese psychosexuelle, fetischistische  Auseinandersetzung mit Chrysothèmes Kleidung gipfelt in der Einladung, eine Truhe voller Unterwäsche zu öffnen. Wiederum, sowohl von Madames Befehlen als auch von seinem eigenen Drang getrieben, gehorcht er und erklärt, dass der Duft berauschend war. Verloren in dieser Träumerei, vergisst er die Zeit, bis er bemerkt, dass ihm kalt ist und er seinen Geruchssinn verloren hat. Als er auch noch ein Bild an der Wand entdeckt, das er selbst gemalt hat, hat er genug und flieht aus dem Haus. Auf dem Weg nach draußen folgt ihm die Madame mit einer Schere und fleht ihn an, ihr eine Haarlocke als Souvenir zu geben.

Die Geschichte endet mit der Erosion des Glaubens an eine materielle Realität. Aickman listet diffuse Symbole und Manifestationen auf, die er auch in der Erzählung verwendet. Der Maler zweifelt an allem, was er bei Madame erlebt hat und ruft damit auch die Zweifel des Lesers hervor. Die mögliche Erklärung für all dies ist die klassische Freudsche Trinität von Ich, Über-Ich und Es; mehr oder weniger tritt der Maler in die Substanz seines eigenen Bewusstseins ein, wörtlich und bildlich. Das entspricht Aickmans Vorstellung von einer gelungenen Gespenstergeschichte, nämlich dass der Autor das Unterbewusstsein für poetische Zwecke nutzen sollte. Dennoch befriedigt diese Erklärung – wie bei vielen Aickman-Geschichten – nicht, oder genauer: Aickmans Geschichten gehen über dieses vereinfachte System hinaus.

Der umgekehrte Succubus

Das Thema, das sich durch “Ravissante” zieht, ist das des Künstlers, der sich von seinen eigenen kreativen Prozessen entfremdet fühlt. Der fragliche Maler glaubt, dass sein Werk von “jemand anderem” stammt. Das wäre dann ein Beispiel für Inspiration als Besitz. Betrachtet man die Geschichte unter diesem Aspekt, wird sie metafiktional. Unser Maler kommt durch einen schattigen und fleischigen ontologischen Tunnel zu einem Haus, der seinen eigenen Geist repräsentiert. Dort wird er an die Quelle seiner eigenen Inspiration herangeführt. Der Muse selbst kann er allerdings nicht persönlich begegnen. An diesem Punkt ist er von dieser Quelle auf eine ziemlich unheimliche, onanistische Weise besessen. Obwohl es sich um einen Besitz handelt, der durch gebrauchte Gegenstände vermittelt wird – nämlich durch Kleidung, die auf seltsame Art und Weise als Substitut benutzt wird – handelt es sich nach wie vor um einen fruchtbaren Besitz. Chrysothème ist nicht so sehr ein Sukkubus, der Energie entzieht, sondern – paradoxerweise – ein weiblicher Inkubus, der Energie liefert. Sie ist ein abwesender Inkubus, aber dennoch ein Inkubus.

Diese beiden Beispiele sind unvollständig in ihrer kurzen Analyse, die im Grunde nur dazu dienlich ist, sich der Faszination von Aickmans strange stories auszuliefern, die so rar auf uns gekommen sind und die mehr Aufmerksamkeit verdienen, weil sie zur Basis jeden Verständnisses über die moderne Weird Fiction gehören, ohne deren Kenntnis ein schrecklich großer Teil für immer fehlen würde.

Der Werwolf

Wenn der Vollmond aufgeht, weiß jeder, dass er in höchster Alarmbereitschaft sein muss. Der Vollmond ist seit langem für die seltsamen Veränderungen im menschlichen Verhalten verantwortlich, wird aber vielleicht am meisten mit der Verwandlung eines besonders furchterregenden Wesens in Verbindung gebracht – dem Werwolf.

Werwölfe sind mythische Kreaturen, die man in unheimlichen Geschichten auf der ganzen Welt findet, auch wenn sie seit Jahrhunderten hauptsächlich Bestandteil der europäischen Folklore sind. Es gibt viele Variationen ihrer Verwandlung und ihrer Geschichte, aber es gibt keinen Konsens darüber, wie genau dieser Mythos entstanden ist. Gemeinsam ist den Erzählungen jedoch die Verwandlung eines Menschen in einen Wolf oder zumindest in eine wolfsähnliche Kreatur. In den volkstümlichen Erzählungen kann dies auf einen Zauber oder einen Biss zurückzuführen sein. Eine andere Geschichte geht davon aus, dass ein Mensch durch die Begegnung mit einem dämonischen Wesen zu einem Werwolf werden kann, indem ein Pakt geschlossen wird.

Wörtlich bedeutet das Wort „Mann-Wolf“ und man geht davon aus, dass jeder, der von einer solchen Kreatur gekratzt oder gebissen wird, den Fluch ebenfalls in sich aufnimmt.

Aus der skandinavischen Mythologie ist überliefert, dass Männer sich in Werwölfe verwandeln können, wenn sie ihre Kleider ablegen und einen Gürtel mit Wolfsfell oder ein ganzes Wolfsfell tragen. Um zurück in einen Menschen verwandelt zu werden, muss der Werwolf seine menschliche Kleidung wiederfinden.

Es gibt auch Erzählungen über magische Salben, die einen Menschen verwandeln können. Andere Quellen berichten von verwunschenen Bächen, die Menschen die Fähigkeit zur Verwandlung verleihen. Möglich ist auch das Trinken von Regenwasser aus dem Fußabdruck eines Wolfs und das Schlafen im Licht des Vollmonds.

Der Werwolf im Christentum

In vielen Gegenden, in denen das Christentum die vorherrschende Religion ist, wird von Werwolftransformationen durch ein Bündnis mit dem Teufel berichtet. Viele Historiker glauben, dass dies eine Möglichkeit war, die gewalttätigen und kannibalischen Impulse von räuberischen Serienmördern im Mittelalter zu verarbeiten. Religiöse Kulturen erklärten die Verwandlung in einen Werwolf manchmal mit einer göttlichen Bestrafung durch Gott selbst. Tatsächlich wurde gesagt, dass diejenigen, die aus der römisch-katholischen Kirche exkommuniziert wurden, mit dem Fluch des Werwolfs leben müssten.

Obwohl die Verwandlung in diese Kreatur als schrecklich angesehen wurde, gab es Mittel zur Heilung. Einige Kulturen glaubten, dass extreme sportliche Betätigung ausreichen würde, um eine betroffene Person zu heilen. Andere glaubten, dass ein Messerstich in die Kopfhaut eines Werwolfs die Verwandlung stoppt. Es gibt auch Berichte über das Durchbohren der Hände eines Werwolfs mit Nägeln, um ihn zu heilen.

Die frühesten Beispiele des Werwolfs

Das früheste überlieferte Beispiel für die Verwandlung eines Menschen in einen Wolf findet sich im Gilgamesch-Epos aus der Zeit um 2.100 v. Chr. Der Werwolf, wie wir ihn heute kennen, tauchte jedoch erstmals im antiken Griechenland und Rom auf, und zwar in historischen, poetischen und philosophischen Texten.

Im Jahr 425 v. Chr. beschrieb der griechische Historiker Herodot die Neuri, einen Nomadenstamm magischer Männer, die sich für einige Tage im Jahr in Wölfe verwandelten. Die Neurier stammten aus Skythien, einem Gebiet, das heute zu Russland gehört. Ähnlich wie in Skandinavien ist es nicht verwunderlich, dass sich die Bewohner eines so rauen Klimas mit Wolfsfellen wärmten.

Als Ursprung des modernen Werwolfs dient uns Ovids Geschichte von Lykaon, in der die Verwandlung mit seinem unmoralischen Verhalten zusammenhängt. Dieser Aspekt hat dazu beigetragen, dass sich die Figur des monströsen Werwolfs vor allem in der Schauer- und Horrorliteratur durchgesetzt hat, von der wir uns gleich einige Beispiel ansehen.

Lykaon war ein Sterblicher, der versuchte, die Allwissenheit des Zeus zu testen. Um zu sehen, ob Zeus wirklich allmächtig und allwissend war, tötete Lykaon seinen eigenen Sohn und servierte Zeus dessen gebratenes Fleisch.

Zeus wusste natürlich, was Lykaon getan hatte, und bestrafte ihn für seine schrecklichen Taten, indem er ihn in einen Wolf verwandelte.

Lykaons charakterliche Defekte wurden also physisch auf seinen Körper aufgepfropft, er wurde zu dem, was sein Verhalten vermuten ließ. Was aber vielleicht am wichtigsten ist, Lykaon führte die Idee ein, dass man überhaupt erst ein Monster sein muss, um sich in einen Werwolf zu verwandeln.

Die Pulp-Ära des Werwolfs

Im frühen zwanzigsten Jahrhundert hatte die Verwendung Viktorianischer Folklore und Pseudo-Folklore in Bezug auf den Lykanthropen einen deutlichen Einfluss auf die Werwölfe der Schauerliteratur und die Autoren der Pulp-Fiction begannen, die Geschichten handlungsorientierter zu gestalten und sie in die Fantasy-Literatur zu integrieren.

Tatsächlich gab es in der Folge eine zunehmende Überschneidung zwischen Detektivgeschichten und Werwolfsgeschichten, um das abscheuliche Element der Gesellschaft zu verorten, das direkt auf den Mythos um Lykaon verweist. Sicherlich trägt die Trope des Detektivs dazu bei, den Werwolf für eine neue Generation von Lesern zu definieren, aber es ist die Verwendung der Folklore, die die Darstellung dieses Monsters authentisch macht und ihm eine bedeutende Abstammung verleiht.

Die Werwolf-Literatur

Unser erstes Beispiel stammt von Algernon Blackwoods Erzählung „Der Hund im Camp“ (1908), und handelt von John Silence, einem okkulten Detektiv, dessen Aufgabe darin besteht, das Auftauchen eines Werwolfs während eines Campingausflugs zu erklären. Silence definiert den Werwolf als „nichts anderes als die wilden und möglicherweise blutigen Instinkte eines leidenschaftlichen Mannes, der die Welt mit seinem fließenden Körper durchkämmt“. Diese Beschreibung ist fast wortwörtlich aus Eliphas Levis Buch Transzendentale Magie (1856) übernommen, in der der Werwolf wie folgt beschrieben wird:

„Nichts anderes als der siderische Körper eines Menschen, dessen Wildheit und blutige Instinkte durch den Wolf verkörpert werden“.

Durch die Wiederaneignung eines früheren Textes vermittelt Silence dem Leser die Erklärung der Lykanthropie und verortet sie in der Vergangenheit als Zeugnis abergläubischerer Zeiten.

In Seabury Quinns „Die Blutblume“ (1927) ist die Pseudo-Folklore gleichermaßen Ursache und Mittel zur Vernichtung der Bestie. Der okkulte Detektiv Jules de Grandin rettet eine junge Frau vor ihrem Onkel, der sie mit Hilfe einer exotischen Blume in einen Werwolf verwandeln will, indem er einen Exorzismus durchführt, bei dem er Pentagramme malt und lateinische Worte spricht. Grandin stützt sich auf volkstümliche Berichte über Werwölfe und religiöse Traktate über Werwölfe aus der Zeit um 1500. Die Idee der „Blutblume“ bezieht sich vielleicht auf die Beziehung zwischen Eisenhut und Werwolf. Insbesondere behauptet de Grandin, dass das „alte Land“ oder Europa ein Ort ist, aus dem diese Folklore stammt, insbesondere die Erwähnung von Transsylvanien.

In Quinns „Der Mann, der keinen Schatten warf“ (1927) kehrt Osteuropa als Quelle von Monstern zurück. Hier wird Graf Czerny, ein ungarischer Graf, der beschuldigt wird, ein „loup-garou“ zu sein, der haarige Handflächen hat und Blut trinkt, von Grandin mit einem Pflock durch das Herz getötet. Obwohl Czerny viele Merkmale aufweist, die wir als Vampir bezeichnen würden, ist seine Verbindung zu den Werwölfen eindeutig. Sowohl sein Name als auch die Anschuldigung, gegen die Türken gekämpft zu haben, bringen ihn mit einem anderen bluttrinkenden Grafen in Verbindung, nämlich Bram Stokers Dracula. Stokers Ungeheuer war selbst das Produkt einer (zweckentfremdeten) Folklore. Der Einfluss von Emily Gerards Artikel „Transylvanian Superstitions“ auf Stokers Werk, insbesondere auf die vampirischen Elemente von Dracula, ist nach der Entdeckung von Stokers Arbeitsnotizen bekannt worden.

Der Grund für den Rückgriff auf frühere Folklore zur Schaffung monströser Schlüsselfiguren wird von Algernon Blackwood genannt. In seiner Geschichte „Rennender Wolf“ begegnet der junge Mann Malcom Hyde einem Werwolf. Als Produkt europäischer Einwanderer, die in die Neue Welt verdrängt wurden, hat Hyde keine einheimischen Wurzeln und es fehlt ihm an folkloristischem Wissen. Blackwoods Geschichte spiegelt hier die Sorge der frühen amerikanischen Gothic-Romanautoren wider, dass es in der Neuen Welt nicht genug Geschichte in Form von Burgen und Ruinen gab, um eine gotische Fassade aufrechtzuerhalten. Stattdessen historisiert Blackwood seine Werwölfe, indem er sich indianischer Tropen bedient, ähnlich wie andere Pulp-Autoren europäische Folklore und Texte verwendeten.

Autoren bauten ihre Darstellungen von Werwölfen also auf den Grundlagen früherer Folklore auf. Auf diese Weise verliehen sie ihren lykanthropischen Kreaturen einen Anstrich von gotischer Authentizität. Der Erfolg von Stokers lykanthropischem Vampir in der Populärkultur zeigt, wie wirksam die Kombination von Folklore und Gotik ist, um ein glaubwürdiges und dauerhaftes Monster zu schaffen. Indem sie eine Detektivfigur in viele Pulp-Fiction-Geschichten einfügten, verliehen die Autoren ihren Texten eine Stimme der Autorität, die die Taxonomie jedes einzelnen Werwolfs für ihre Leserschaft erläuterte. Während sich der Werwolf mittlerweile stark verändert hat, ist das Modell des Lernens über jede Inkarnation des Werwolfs ähnlich geblieben. Und mit jedem Werwolf-Text wird die Beziehung zwischen Folklore und Werwölfen neu geschmiedet.

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