Possenspiele

Schlagwort: England (Seite 27 von 33)

Das Haus in der Half Moon Street von Alex Reeve

Leo Stanhope ist der neueste Serienheld aus der Feder von Alex Reeve, und  Das Haus in der Half Moon Street ist der erste Band einer viktorianischen Krimiserie aus dem Jahre 2018, die bei Knaur erschienen ist.

Der zweite Band wird im April 2022 erscheinen, was mich ungemein freut, weil so etwas ja immer auch am Publikum liegt. Der Autor hat es sich nämlich nicht ganz einfach gemacht.

Vielmehr hat er von Beginn an gewusst, dass er mit seinem außergewöhnlichen Helden in ein Wespennest stechen könnte und zum Teil ja auch hat. Das war auch der Grund, warum er im Anhang noch einmal auf seine Absicht hinweisen wollte und dem Leser erklärt, was ihn an der Sache reizte und wie sich Leo schließlich aufdrängte, obwohl Reeve immer wieder mit dem Gedanken spielte, ihn nur am Rande zu beachten.

Der Roman spielt im viktorianischen England um 1880 und fällt schon allein aus diesem Grund in meinen gesteigerten Aufmerksamkeitsbereich, aber auch ich war relativ überrascht, dass hier einige der bekanntesten Tropen des Genres ausgehebelt wurden, ohne die notwendige Atmosphäre in irgendeiner Form anzutasten.

Leo Stanhope arbeitet als Assistent des Gerichtsmediziners und verbringt seine Tage mit dem Schreiben von Berichten und dem Zusammennähen der autopsierten Leichen. Er ist unsterblich in die Prostituierte Maria verliebt und sehnt sich nach dem Tag, an dem sie zusammen sein können, nach dem Tag, an dem sie das Bordell verlassen kann, um sich ganz ihm zu widmen. Als Maria ermordet wird, wird Leo zum Hauptverdächtigen und findet sich plötzlich ohne Freunde und Arbeit im London von 1880 wieder. Er ist – zunächst zögerlich und verwirrt – dazu entschlossen, die Identität von Marias Mörder aufzudecken, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, und sich selbst vor der Schlinge des Henkers zu retten. Aber der Galgen ist vielleicht noch die geringste von Leos Sorgen: Als geborene Charlotte verstößt Leo jedes Mal gegen das Gesetz, wenn er sein Haus verlässt, und wenn sein Geheimnis aufgedeckt wird, droht ihm ein viel schlimmeres Schicksal als der schnelle Tod, den der Henker verspricht.

„Das Haus in der Half Moon Street“ macht uns mit dem jungen Mr. Stanhope und der dunklen Schattenseite Londons bekannt. Alex Reeve beschreibt auf wunderbare Weise die vom Smog gefüllte Stadt und die oft zwielichtigen Gestalten, die sie bewohnen, und nutzt Stanhopes einzigartige Umstände, um die Moral einer Zeit zu untersuchen, in der einige Verbrechen akzeptabler zu sein schienen als andere. Dennoch fokussiert er sich stark auf das Vorwärtsdrängen der Geschichte und auf den Ich-Erzähler Leo, der aus seinem Elternhaus und den konservativen Ansichten seines klerikalen Vaters floh, um seine eigene Identität zu finden und ein Leben fernab von allen zu führen, die ihn in der Vergangenheit als Mädchen gekannt haben könnten.

Stanhope hat sein Geheimnis notwendigerweise nur einigen wenigen Menschen offenbart, und die Reaktionen reichen von Akzeptanz (bei seiner geliebten Maria) bis hin zur Ablehnung (interessanterweise bei den Menschen, die ihn am besten kennen: seinem Bruder und seiner Schwester). Die konservativen Moralvorstellungen der damaligen Zeit sehen in Leo einen Kriminellen, der jedes Mal gegen das Gesetz verstößt, wenn er das Haus in Männerkleidung verlässt. Doch der gleiche moralische Kompass scheint bei Mord und Menschenhandel auf seltsame Weise abwesend zu sein.

Als die Prostituierte, die er liebt, ermordet wird, findet sich Leo zwangsläufig in der Rolle eines Amateurdetektivs wieder, der versucht, ihrem Tod auf die Spur zu kommen. Die ohnehin schon angespannte Situation – Leo gilt zunächst als Hauptverdächtiger in diesem Fall, wird aber später durch den Einfluss von jemandem, der in der Nahrungskette viel weiter oben steht als er, wieder freigelassen – wird durch Leos Situation noch verschärft: Der kleinste Ausrutscher könnte sein Geheimnis verraten und ihn in die Irrenanstalt oder ins Gefängnis bringen. Leo verbündet sich mit der Witwe eines Mannes, der anscheinend von derselben Person getötet wurde, die auch Maria umgebracht hat, und kämpft gegen eine Reihe von Bösewichten jeder Größe und Form, angefangen bei dem respektablen Geschäftsmann, der heimlich die Hälfte der Bordelle in der Stadt betreibt und hinter einem Sexhandel steckt, bei dem junge Frauen von London nach Brüssel transportiert werden, bis hin zu der Bordellbetreiberin, die über ihren Stand hinausgeht, und dem Mann mit einem Wieselgesicht, dessen Loyalität fragwürdig, aber deswegen nicht weniger beängstigend ist.

Alex Reeves Debütroman ist ein klug konstruiertes Rätsel, das durch die Brille des viktorianischen Englands Themen untersucht, die gerade heute noch aktuell sind. Leo Stanhope ist ein außergewöhnlich sympathischer Charakter, mit dem man von Anfang an mit fiebert. „Das Haus in der Half Moon Street“ hat zwar eine ausgesprochen düstere Perspektive, aber auch ein Herz für Witz und Charme, das es nicht nur unterhaltsam, sondern auch unvergesslich macht. Es ist eine fesselnde Geschichte, die den Leser von der ersten Seite an in ihren Bann zieht und ihn bis zum letzten Wort nicht mehr loslässt. Dazu trägt natürlich auch das Versprechen auf weitere Abenteuer des Amateurdetektivs mit dem Alleinstellungsmerkmal bei. Ich gehe davon aus, dass wir in naher Zukunft noch viel von Mr. Reeve und Mr. Stanhope hören. Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt, um dabei zu sein.

Arthur Conan Doyle – Spiritist und Gentleman

Arthur Conan Doyle
Spiritist und Gentleman

Während der Schriftsteller und Arzt Sir Arthur Conan Doyle heute bei den meisten für seinen logisch denkenden Skeptiker Sherlock Holmes bekannt ist, wissen die Horrorbegeisterten aus aller Welt, dass er mit seiner bösartigen Mumie eine der besten Geistergeschichten der englischen Literatur verfasste und erkennen in ihm einen Vorfahren der Lovecraft unterstellten Weird Fiction. Tatsächlich ist Doyle für die Mumie das, was Stoker für den Vampir ist, und seine Geschichten von spitzhackenschwingenden Serienmördern, gespenstischen Folterinstrumenten, Geistern am sonnenlosen Nordpol, verfluchten Werwölfen, gelatineartigen Monstern am Himmel über uns und verunglückten Séancen, sind genauso kühl vorgetragen wie die Holmes-Abenteuer spannend sind. Der enorme Erfolg dieser Detektivgeschichten erlaubte es Conan Doyle, 1891 seine medizinische Praxis aufzugeben und sich dem Schreiben zu widmen. Sein Schaffen war breit gefächert: Theaterstücke, Verse, Memoiren, Artikel über Sport, Kurzgeschichten, historische Romane und schließlich Schauerromane und Schriften über Spiritualismus. Sein erfolgreichstes Werk blieb jedoch Holmes, sehr zu seiner späteren Frustration.

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Der Uhrmacher in der Filigree Street / Natasha Pulley

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Auf Natasha Pulley wurde ich allein schon deshalb aufmerksam, weil die junge Dame in Oxford Literatur studierte und ich ein nicht geringes Faible für das einzigartige Milieu von Oxford und Cambridge hege, ob nun als fiktive Hintergrundkulisse wie in einigen berühmten Kriminalromanen oder falls sich Autoren aus dieser Kulisse erheben. Ein weiterer Grund für mich, genauer hinzuschauen, war das Setting des Romans: das viktorianische England, das auf mich stets wie ein zusätzlicher Magnet wirkt.

Natasha Pulleys Debüt „The Watchmaker of Filigree Street“ erschien bereits im Jahre 2015. Damit gewann die Autorin einen Betty Trask Award, der für Erstlingsromane von Autoren unter 35 Jahren vergeben wird, die in einem derzeitigen oder ehemaligen Commonwealth-Staat ansässig sind.

Mittlerweile hat sie bereits zwei weitere Romane veröffentlicht – und darunter befindet sich auch ein Sequel zu ihrem vorliegenden Uhrmacher. Ich kann mir gut vorstellen, dass zumindest die Fortsetzung gute Chancen auf eine Übersetzung hat.

Es hat gar nicht lange gedauert, da wurde Pulleys Debüt bereits mit den Werken von Susanna Clarke, Philip Pullman, David Mitchell und Neil Gaiman verglichen, vor allem, weil das Buch eine Vielzahl von Möglichkeiten für eine visuelle Umsetzung bietet.

Obwohl die Geschichte des Romans im viktorianischen England angesiedelt ist und Elemente des Steampunk enthält, bekommen wir von der Autorin ein Setting geliefert, das originell ist und durch viele Besonderheiten auf sich aufmerksam macht. Natürlich gibt es die obligatorischen fiktiven wissenschaftlichen Passagen, aber auch auf den Hauch einer Detektivgeschichte, die in dieser Zeit ja überhaupt erst entstand und sie somit auch ein bißchen repräsentiert, müssen die Leser nicht gänzlich verzichten, wenn auch die Auflösung schlussendlich nicht so elegant ist wie die Prosa der Autorin.

Der Uhrmacher in der Filigree Street von Natasha Pulley beweist, dass man abgedroschenen Genre-Tropen durch eine Kombination aus elegantem Plot, jeder Menge Erfindungsreichtum und sprunghafter Charakterisierung neuen Glanz verleihen kann.

Es sind die 1880er Jahre, und der einfache Telegrafist Thaniel Steepleton muss feststellen, dass in sein Haus eingebrochen wurde und eine mysteriöse Taschenuhr in seinem Schlafzimmer hinterlassen wurde. Nachdem er dank des Alarms der Uhr einen Bombenanschlag des Clan-na-Gael, eines radikal operierenden Geheimbunds nationalistischer Iren auf Scotland Yard, überlebt hat, macht sich Thaniel auf die Suche nach dem Hersteller der Uhr und stößt dabei auf den gewissenhaften Mr Mori, den japanischen Uhrmacher aus der Filigree Street, der – mehr oder weniger – in die Zukunft sehen kann. Der ganze Prozess ist allerdings kompliziert und überhaupt nicht so plump, wie man das zunächst verstehen könnte; besser wäre es also, zu sagen: Mori kann sich an die Zukunft erinnern, aber nur dann, wenn ein zukünftiges Ereignis sich auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewahrheitet.

Schon bald ist Thaniels Schicksal mit dem von Mr. Mori – den er verdächtigt, etwas mit der Bombenexplosion zu tun zu haben – auf interessante Weise verknüpft. Diese Verknüpfung geht allerdings noch weiter zurück, als Thaniel zu diesem Zeitpunkt ahnt.

Als wir durch die Türen von Moris Haus in der Filigree Street traten, kam Natasha Pulleys Vorstellungskraft voll zur Geltung. Moris Werkstatt ist ein magischer Ort voller elektrischer Lichter, die auf Bewegungen reagieren, und Uhrwerkskreationen wie Katsu, ein schelmischer Oktopus, der gerne Socken stiehlt und an Möbelbeinen hochklettert.

Die Art und Weise, wie ihre Geschichten miteinander verknüpft werden, und wie Natasha Pulley mit der komplexen Handlung jongliert und immer wieder für Überraschungen sorgt, sind nur zwei der vielen Vorzüge dieses Romans, in dem es vornehmlich um das Wesen des Genies, der menschlichen Schwächen, und die Möglichkeiten und die Natur des freien Willens geht. Wenn ein Schmetterling, der mit den Flügeln schlägt, einen Wirbelsturm auslösen kann – was wäre dann, wenn es zwei Schmetterlinge gäbe, oder gar keinen? Welche vielfältigen Schicksale könnten vom Flügelschlag eines Schmetterlings abhängen? Die Zukunft ist ungewiss und unbestimmt, und der kleinste Zufall kann alles verändern.

Ein großer Teil der Handlung von Der Uhrmacher der Filigree Street dreht sich um die sich vertiefende Freundschaft zwischen Thaniel und Mori, aber auch um die zwischen Grace Carrow und ihres japanischen Kommilitonen Matsumoto.

Grace Carrow hat ihre eigenen Verdachtsmomente gegenüber Mori und Bedenken gegenüber seinem wachsenden Einfluss auf Thaniel. Sie ist eine Wissenschaftlerin, die verzweifelt versucht, ihre Theorie des leuchtenden Äthers zu beweisen, um sich die Unabhängigkeit von ihren übermächtigen Eltern zu erkaufen. Doch als Thaniel sich emotional zwischen den beiden Genies wiederfindet, die beide im Mittelpunkt seiner Welt stehen wollen, sind wir schockiert, was jeder von ihnen zu tun bereit ist, um die Zukunft zu sichern, die er sich erhofft.

The Watchmaker of Filigree Street begann als Kurzgeschichte an einem Weihnachtsabend vor sechs oder sieben Jahren“. Als Natasha Pulley ihren Master in kreativem Schreiben an der University of East Anglia begann, hatte sie bereits einen ersten Entwurf des Romans fertiggestellt, der aufgrund des Feedbacks von Kollegen überarbeitet und erweitert wurde. Der Vertrag mit Bloomsbury kam zustande, bevor sie 2013 nach Japan ging.

Besonders interessant ist der Roman aber auch, weil er sich auf das japanische London konzentriert, ein sehr spezielles London, das dem allgemeinen Leser nicht oft begegnet. Das japanische London wird durch die Darstellung eines Knightsbridge-Musterdorfs, in dem das japanische Leben für die Engländer aufgeführt wurde, durch die Schilderung eines japanischen Teehauses in London sowie des Wohnsitzes des Uhrmachers Mori, erkundet.

Wie Natasha Pulley in ihrer Danksagung schreibt, ist die Darstellung des viktorianischen und japanischen Londons von einer gewissen „historischen Genauigkeit“ geprägt.

Was diese Genauigkeit angeht, so gibt es einige Nachschlagwerke, vor allem das „Lee Jacksons Dictionary of Victorian London“, das brillante Quellen über die Anfänge der Londoner U-Bahn, das Vorzeigedorf Knightsbridge, den Anschlag auf Scotland Yard und tausend andere interessante Dinge enthält. Darüber hinaus vermittelt Natsume Soskekis trauriger und urkomischer Roman „Das Tor aus Tokio“ von 1906 eine sehr gute Vorstellung davon, was ein Japaner zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über England dachte.

Ob das Buch nun tatsächlich in eine Steampunk- oder Fantasy-Schublade passt oder besser als historischer Roman mit einigen Fantasy-Elementen zu bezeichnen ist, darüber kann man trefflich streiten. Denn am Ende ist das alles nicht wirklich wichtig. Der Uhrmacher in der Filigree Street ist ein unterhaltsames, manchmal verblüffendes, berührendes und oft schönes Debüt, mit dem einzigen Makel, dass der Übersetzer Jochen Schwarzer die feine Sprache der Autorin permanent mit dem Unwort „halt“ spickt. „Mein Vater hieß halt Nat“, oder „Ich bin halt bloß einsam“.

Dieses äußerst schlechte Deutsch schlägt vor allem deshalb wie ein Hammer zu, weil die Distanz zur vorgelegten Übersetzung dadurch von einer Sekunde auf die andere riesengroß wird.

Erhältlich bei Klett-Cotta.

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