Possenspiele

Schlagwort: Literatur (Seite 57 von 84)

Der Uhrmacher in der Filigree Street / Natasha Pulley

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Auf Natasha Pulley wurde ich allein schon deshalb aufmerksam, weil die junge Dame in Oxford Literatur studierte und ich ein nicht geringes Faible für das einzigartige Milieu von Oxford und Cambridge hege, ob nun als fiktive Hintergrundkulisse wie in einigen berühmten Kriminalromanen oder falls sich Autoren aus dieser Kulisse erheben. Ein weiterer Grund für mich, genauer hinzuschauen, war das Setting des Romans: das viktorianische England, das auf mich stets wie ein zusätzlicher Magnet wirkt.

Natasha Pulleys Debüt „The Watchmaker of Filigree Street“ erschien bereits im Jahre 2015. Damit gewann die Autorin einen Betty Trask Award, der für Erstlingsromane von Autoren unter 35 Jahren vergeben wird, die in einem derzeitigen oder ehemaligen Commonwealth-Staat ansässig sind.

Mittlerweile hat sie bereits zwei weitere Romane veröffentlicht – und darunter befindet sich auch ein Sequel zu ihrem vorliegenden Uhrmacher. Ich kann mir gut vorstellen, dass zumindest die Fortsetzung gute Chancen auf eine Übersetzung hat.

Es hat gar nicht lange gedauert, da wurde Pulleys Debüt bereits mit den Werken von Susanna Clarke, Philip Pullman, David Mitchell und Neil Gaiman verglichen, vor allem, weil das Buch eine Vielzahl von Möglichkeiten für eine visuelle Umsetzung bietet.

Obwohl die Geschichte des Romans im viktorianischen England angesiedelt ist und Elemente des Steampunk enthält, bekommen wir von der Autorin ein Setting geliefert, das originell ist und durch viele Besonderheiten auf sich aufmerksam macht. Natürlich gibt es die obligatorischen fiktiven wissenschaftlichen Passagen, aber auch auf den Hauch einer Detektivgeschichte, die in dieser Zeit ja überhaupt erst entstand und sie somit auch ein bißchen repräsentiert, müssen die Leser nicht gänzlich verzichten, wenn auch die Auflösung schlussendlich nicht so elegant ist wie die Prosa der Autorin.

Der Uhrmacher in der Filigree Street von Natasha Pulley beweist, dass man abgedroschenen Genre-Tropen durch eine Kombination aus elegantem Plot, jeder Menge Erfindungsreichtum und sprunghafter Charakterisierung neuen Glanz verleihen kann.

Es sind die 1880er Jahre, und der einfache Telegrafist Thaniel Steepleton muss feststellen, dass in sein Haus eingebrochen wurde und eine mysteriöse Taschenuhr in seinem Schlafzimmer hinterlassen wurde. Nachdem er dank des Alarms der Uhr einen Bombenanschlag des Clan-na-Gael, eines radikal operierenden Geheimbunds nationalistischer Iren auf Scotland Yard, überlebt hat, macht sich Thaniel auf die Suche nach dem Hersteller der Uhr und stößt dabei auf den gewissenhaften Mr Mori, den japanischen Uhrmacher aus der Filigree Street, der – mehr oder weniger – in die Zukunft sehen kann. Der ganze Prozess ist allerdings kompliziert und überhaupt nicht so plump, wie man das zunächst verstehen könnte; besser wäre es also, zu sagen: Mori kann sich an die Zukunft erinnern, aber nur dann, wenn ein zukünftiges Ereignis sich auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewahrheitet.

Schon bald ist Thaniels Schicksal mit dem von Mr. Mori – den er verdächtigt, etwas mit der Bombenexplosion zu tun zu haben – auf interessante Weise verknüpft. Diese Verknüpfung geht allerdings noch weiter zurück, als Thaniel zu diesem Zeitpunkt ahnt.

Als wir durch die Türen von Moris Haus in der Filigree Street traten, kam Natasha Pulleys Vorstellungskraft voll zur Geltung. Moris Werkstatt ist ein magischer Ort voller elektrischer Lichter, die auf Bewegungen reagieren, und Uhrwerkskreationen wie Katsu, ein schelmischer Oktopus, der gerne Socken stiehlt und an Möbelbeinen hochklettert.

Die Art und Weise, wie ihre Geschichten miteinander verknüpft werden, und wie Natasha Pulley mit der komplexen Handlung jongliert und immer wieder für Überraschungen sorgt, sind nur zwei der vielen Vorzüge dieses Romans, in dem es vornehmlich um das Wesen des Genies, der menschlichen Schwächen, und die Möglichkeiten und die Natur des freien Willens geht. Wenn ein Schmetterling, der mit den Flügeln schlägt, einen Wirbelsturm auslösen kann – was wäre dann, wenn es zwei Schmetterlinge gäbe, oder gar keinen? Welche vielfältigen Schicksale könnten vom Flügelschlag eines Schmetterlings abhängen? Die Zukunft ist ungewiss und unbestimmt, und der kleinste Zufall kann alles verändern.

Ein großer Teil der Handlung von Der Uhrmacher der Filigree Street dreht sich um die sich vertiefende Freundschaft zwischen Thaniel und Mori, aber auch um die zwischen Grace Carrow und ihres japanischen Kommilitonen Matsumoto.

Grace Carrow hat ihre eigenen Verdachtsmomente gegenüber Mori und Bedenken gegenüber seinem wachsenden Einfluss auf Thaniel. Sie ist eine Wissenschaftlerin, die verzweifelt versucht, ihre Theorie des leuchtenden Äthers zu beweisen, um sich die Unabhängigkeit von ihren übermächtigen Eltern zu erkaufen. Doch als Thaniel sich emotional zwischen den beiden Genies wiederfindet, die beide im Mittelpunkt seiner Welt stehen wollen, sind wir schockiert, was jeder von ihnen zu tun bereit ist, um die Zukunft zu sichern, die er sich erhofft.

The Watchmaker of Filigree Street begann als Kurzgeschichte an einem Weihnachtsabend vor sechs oder sieben Jahren“. Als Natasha Pulley ihren Master in kreativem Schreiben an der University of East Anglia begann, hatte sie bereits einen ersten Entwurf des Romans fertiggestellt, der aufgrund des Feedbacks von Kollegen überarbeitet und erweitert wurde. Der Vertrag mit Bloomsbury kam zustande, bevor sie 2013 nach Japan ging.

Besonders interessant ist der Roman aber auch, weil er sich auf das japanische London konzentriert, ein sehr spezielles London, das dem allgemeinen Leser nicht oft begegnet. Das japanische London wird durch die Darstellung eines Knightsbridge-Musterdorfs, in dem das japanische Leben für die Engländer aufgeführt wurde, durch die Schilderung eines japanischen Teehauses in London sowie des Wohnsitzes des Uhrmachers Mori, erkundet.

Wie Natasha Pulley in ihrer Danksagung schreibt, ist die Darstellung des viktorianischen und japanischen Londons von einer gewissen „historischen Genauigkeit“ geprägt.

Was diese Genauigkeit angeht, so gibt es einige Nachschlagwerke, vor allem das „Lee Jacksons Dictionary of Victorian London“, das brillante Quellen über die Anfänge der Londoner U-Bahn, das Vorzeigedorf Knightsbridge, den Anschlag auf Scotland Yard und tausend andere interessante Dinge enthält. Darüber hinaus vermittelt Natsume Soskekis trauriger und urkomischer Roman „Das Tor aus Tokio“ von 1906 eine sehr gute Vorstellung davon, was ein Japaner zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über England dachte.

Ob das Buch nun tatsächlich in eine Steampunk- oder Fantasy-Schublade passt oder besser als historischer Roman mit einigen Fantasy-Elementen zu bezeichnen ist, darüber kann man trefflich streiten. Denn am Ende ist das alles nicht wirklich wichtig. Der Uhrmacher in der Filigree Street ist ein unterhaltsames, manchmal verblüffendes, berührendes und oft schönes Debüt, mit dem einzigen Makel, dass der Übersetzer Jochen Schwarzer die feine Sprache der Autorin permanent mit dem Unwort „halt“ spickt. „Mein Vater hieß halt Nat“, oder „Ich bin halt bloß einsam“.

Dieses äußerst schlechte Deutsch schlägt vor allem deshalb wie ein Hammer zu, weil die Distanz zur vorgelegten Übersetzung dadurch von einer Sekunde auf die andere riesengroß wird.

Erhältlich bei Klett-Cotta.

Warum wir Fantasy-Literatur brauchen

J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ hat sich weltweit rund 150 Millionen Mal verkauft, was ihn zu einem der meistverkauften Romane aller Zeiten macht. Einige behaupten sogar, es sei das größte Buch des zwanzigsten Jahrhunderts. Während Tolkiens Geschichten um Mittelerde immer beliebter werden, weigern sich viele Gelehrte immer noch, sie ernst zu nehmen. Die meisten Kritiker ignorieren sie nicht nur, sondern verachten sie mit feuriger Leidenschaft. Kritiker der jüngeren Generation konzentrieren sich – vor allem, weil sie müssen – auf die vermeintlichen sozialen Probleme in Mittelerde, wie Rassismus oder Sexismus. Aber die erstaunlichsten Aussagen kommen vor allem von der älteren Generation der Literaturkritiker, die behaupten, dass Tolkiens Schreiben einfach schrecklich sei. 

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Der dunkle Bote / Alex Beer

„Der dunkle Bote“ ist der dritte Band der August-Emmerich-Reihe erschien 2019, und wer sich vom Stil Daniela Larchers in den ersten beiden Bänden nicht davon hat abbringen lassen, in ein ausgehungertes Wien zwischen den beiden Weltkriegen zu tauchen, der findet den bisher stärksten Teil dieser Reihe vor. In der Zwischenzeit habe ich mir auch die beiden Isaak Rubinstein-Bücher von ihr zu Gemüte geführt, die nicht ganz so gelungen sind, aber ihr rasanter Stil bleibt doch relativ gesehen derselbe. Eine gute Figurenzeichnerin ist Alex Beer – so das Pseudonym der Autorin – nicht, dafür zieht sie mit ihrer Handlungsstruktur den Leser tiefer ins Geschehen. Ich habe mich bereits bei den anderen Emmerich-Bänden immer wieder etwas über die gewisse Leichtfertigkeit verschiedener Szenen beschwert, aber um ehrlich zu sein, ist in diesem dritten Band nichts mehr zu bemängeln. Die Atmosphäre steht und sie ist düster, der Horror sozusagen real.

Wer über Alex Beer schreibt, der fummelt schnell auch die Phrase „historisch korrekt“ aus den zuckenden Fingern, gerade so, als wäre das wichtig und auch so, als hätten diejenigen, die diese Phrase benutzen, überhaupt eine Ahnung von Geschichte, die tiefer geht als das, was man sich eben so anliest. Man kann immer nur von einer „gefühlten historischen Akkuratesse“ sprechen; wer das nicht tut, ist ein Quatschkopf, und vor allem jemand, der nicht versteht, wie Literatur funktioniert. Trotzdem ist es natürlich so, dass wir eine Zeitmaschine betreten, und diese Zeitmaschine, die funktioniert gut. Es ist eine Zeitmaschine in unseren Kopf hinein, denn dort finden sich schließlich alle Vorstellungen von Geschichte und Geschichten. Tatsächlich legt die Autorin großen wert auf Recherche und fügt in jedem ihrer Bücher einen umfangreichen Anhang hinzu.

Alex Beer hat eine unverwechselbare Stimme und das können nicht viele von sich behaupten. Und sie langweilt den Leser kein bisschen. Obwohl in der Emmerich-Reihe alle Fälle für sich stehen und auch abgeschlossen werden, gibt es eine klare Entwicklung was die fragile Karriere des Inspektors, aber auch sein Privatleben betrifft. Im Grunde setzt der Roman da ein, wo Die rote Frau aufhörte: auf der Suche nach seiner Familie. Erst dann kommt ein Mord dazwischen. Das war bisher anders gegliedert, die privaten Probleme eher eine eingeschobene Randerscheinung, aber bereits darauf ausgerichtet, zu eskalieren.

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