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Der König in Gelb / Robert W. Chambers

Die Sammlung seltsamer Jugendstil-Geschichten des amerikanischen Autors Robert W. Chambers blieb nahezu für ein ganzes Jahrhundert ein ungelesenes Buch. Die erste Hälfte des Buches besteht aus vier unheimlichen Geschichten, die, außer der losen Verbindung des Königs in Gelb, nichts miteinander zu tun haben.

Der König in Gelb ist ein Buch, das jeden, der es liest, in den Wahnsinn treibt. Chambers‘ Sammlung war für damalige Verhältnisse seiner Zeit weit voraus. Sie ist einer der ersten literarischen Metatexte, einer Form, die bei so verschiedenen Autoren wie Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Vladimir Nabokov Verwendung fand. Das Spiel mit Andeutungen, der literarische Isis-Schleier wurde hier geboren. Im letzten Jahr (2014), wurde dieses Buch, das zum Zentrum der HBO-Serie „True Detective“ avancierte, an die Spitze der Amazon-Bestsellerlisten katapultiert. Aber auch in dieser ersten Staffel bleibt der König in Gelb ebenso ungesehen wie im Buch. Aufreizend angedeutet zwar, aber nie aufgedeck

„True Detective“ ist ein düsterer, existentieller Neo-Noir-Stoff, der zahlreiche Hinweise auf den König in Gelb ausstreut. Angesiedelt ist der Mehrteiler im Louisiana Bayou. Die Detectives Rust Cohle und Martin Hart jagen einen Serienmörder, bekannt als der Gelbe König. Die Referenzen an Chambers Werk sind mannigfaltig, ob es sich nun um Symbole handelt, die auf den Leichen hinterlassen werden oder um direkte Zitate, die in den Dialogen vorkommen (Rust Cohle werden dabei jedoch hauptsächlich Sätze aus Thomas Ligottis „The Conspiracy Against The Human Race“ in den Mund verfrachtet). Auch finden die beiden Detectives ein Notizbuch, in dem Texte aus Der König in Gelb stehen. Selbst das Wall Street Journal hat einige Artikel veröffentlicht, die sich auf die Verbindung zwischen Buch und Serie beziehen. So blieb das literarische Phänomen nicht aus: ein Buch, hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung, wird zum Bestseller und greift um sich wie ein Virus. (Ich spreche hier vornehmlich vom angelsächsischen Raum, in Deutschland hinkt man traditionell allem hinterher.)

Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Warum dieses merkwürdigen Erfolges. Die Antwort dürfte in dem liegen, was Lovecraft sagte. Es geht um die Kraft, mit der ein Mythos gezeichnet wird: Geschichten, die ein literarisches Universum miteinander teilen, definiert von der unerklärlichen Furcht vor äußeren, unbekannten Kräften des unauslotbaren Raums.

In Brooklyn 1865 geboren, war Robert W. Chambers ein in Paris ausgebildeter Schriftsteller, der dutzende Romane und Sammlungen in den unterschiedlichsten Genres veröffentlichte. Seine größten Erfolge aber hatte er mit Romanzen und seinen Erzählungen im Bereich des Übernatürlichen. Obwohl Chambers den Leser nie mehr sehen lässt als ein Bruchstück, deuten seine Geschichten doch an, dass sie sich einer ähnlichen Handlung bedienen wie Poes „Maske des roten Todes“. Wie in Poes Erzählung scheint der König in Gelb eine Larve zu sein, die sich unter den dekadenten Adel mischt, eine schreckliche Gestalt, von der man nicht sicher sein kann, ob sie nun eine Maske trägt oder nicht. Noch bizarrer hingegen wirkt Carcosa, eine verfluchte Stadt in einer fremden Welt.

Aus heutiger Sicht ist das Bemerkenswerteste an Der König in Gelb nicht der literarische Wert der Geschichten. H. P. Lovecraft, der stark beeinflusst war von Chambers‘ Arbeit, nannte ihn einen „gefallenen Titanen“, der mit guter Bildung und Herkunft ausgestattet, dennoch unfähig blieb, diese zu nutzen. Die beste Geschichte im König in Gelb ist „Der Wiederhersteller des guten Rufes“, eines der großen Beispiele eines unzuverlässigen Erzählers. Der Rest ist bestenfalls Durchschnittskost. Dennoch war Der König in Gelb in einer weiteren Sache bahnbrechend: 27 Jahre bevor H. P. Lovecraft sein Necronomicon ersann, enthüllte Chambers‘ „Zauberbuch“ unwiderstehliche Wahrheiten über den Kosmos all jenen, die mutig genug waren, es zu lesen. Es hat zu allen Zeiten Autoren gegeben, die fiktive Bücher erfanden, aber keiner ist dabei so weit gegangen, um deren Existenz glaubhaft zu machen. Nach S.T. Joshi, einem Literaturkritiker und führender akademischen Figur, der eine Studie über phantastische Geschichten schrieb, baut True Detective auf die Kraft einer Idee, die seit mehr als einem Jahrhundert gewachsen ist.

Mit Der König in Gelb stellt Chambers eine flüchtige Verbindung zwischen Geschichten her, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben. Er tut das auf eine sehr indirekte Weise, tröpfchenweise, und hat somit viele spätere Schriftsteller mit dem fasziniert, was er nicht schrieb.

Das macht den Mythos als literarische Form so gewaltig. Es gilt, damit einen fruchtbaren Boden für künftige Autoren zu schaffen.

Schriftsteller wie Chambers waren sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, jedes Detail des Universums, das sie entworfen hatten, auszuarbeiten, während sie gleichzeitig darum bemüht waren, zu erklären, dass da noch so viel mehr unter der Oberfläche lauert,

sagt Joshi.

Es ist dieser Mangel an Definition, das anderen Autoren erlaubt, die Lücken zu füllen, die Themen und Ideen für eine neue Zielgruppe neu zu interpretieren.

 Das ist es, was True Detective mit dem König in Gelb so faszinierend macht. Während Chambers mit nur ein paar Dutzend Sätzen seinen Mythos skizzierte, nutzt die Idee des gelben Königs unsere existentiellen Ängste, unsere Zurechnungsfähigkeit, unsere Handlungsfähigkeit und unseren Platz in einem Universum, dass sich nicht im mindesten um uns schert. Mehr als die spezifischen Handlungsdetails der Geschichte selbst, ist es der Abgrund, den die Protagonisten von True Detective untersuchen. Blickt man in Cohles Augen, sieht man die unausgesprochene nihilistische Verzweiflung. Man sieht dort gespiegelt die Seele eines Mannes, der den König in Gelb gelesen hat – nicht als billiges Taschenbuch, sondern geschrieben auf den Seiten unseres modernen Lebens. Ob es da unten im Abgrund wirklich einen Gelben König gibt, ist dabei völlig nebensächlich.

Die Enwor-Saga von Wolfgang Hohlbein

In den 80er Jahren haben einige sehr interessante Werke der Fantasy ihren Ursprung. Stephen King begann sein gewaltiges Epos Der dunkle Turm, Stephen R. Donaldson legte seinen Thomas Covenant vor. Und es gab noch andere, die heute zur Grundlage dieses Genres zählen, alles in allem aber war es ein Tasten im Dunkeln. Die meisten Autoren zeigten sich von Tolkien inspiriert, der wie ein Magnet alle Ideen an sich zu reißen schien. Deutsche Autoren waren ohnehin nicht auf dieser Landkarte verzeichnet. Einer von ihnen machte aber gleich in seiner Anfangsphase dann doch von sich reden: Wolfgang Hohlbein. Und scheinbar brauchte der Mann keine Anlaufzeit, denn mit dem ersten Buch seiner Enwor-Saga brach er nicht nur mit der Tradition Tolkiens, sondern demonstrierte auch gleich jene ungeheure Fabulierlust, die ihm nicht nur Lob einbrachte. Was wenige wissen: unbeobachtet von der internationalen Entwicklung war er einer der ersten, die mit Enwor einen Erzählton einführten, der heute als Grimdark Fantasy in aller Munde ist und von Meistern wie Steven Erikson, George R. R. Martin, Scott Lynch oder Joe Abercrombie zu voller Blüte gebracht wurde. Heute gilt es als selbstverständlich, Glen Cook und seine „Black Company“ – Romane als Vorläufer des Genres zu betrachten, die ebenfalls in den 80ern ihren Ursprung haben, aber Wolfgang Hohlbein war ein ganzes Jahr früher dran. Und das ist noch nicht alles: Enwor ist sogar besser. Das zeigt vor allem eins: die schlechte Anbindung deutschsprachiger Literatur an die internationale – und vornehmlich die englischsprachige phantastische Literatur – zu jener Zeit. Wolfgang Hohlbein hat, bescheiden wie er ist, auch niemals darauf hingewiesen. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal. 


Wenn es zum Thema Hohlbein kommt, wird man meistens auf eine geteilte Meinung treffen. Einerseits schreibt der Mann am Fließband und bedient so viele unterschiedliche Genres, dass man bereits von Massenfabrikware sprechen kann. Andererseits sind die Qualitätsschwankungen eben so gewaltig, dass sich von regelrechtem Abraum bis zum phantastischen Feuerwerk nahezu alles in seinem Werk wiederfindet. Hohlbein hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er zur reinen Unterhaltung schreibt. Wenn wir ehrlich sind, tut das jeder gute Schriftsteller, auch wenn einige das gar nicht gerne hören.

Hohlbein ist heute so erfolgreich, dass er hin und wieder – wenn ein Jubiläum oder grundsätzlich eine Neuauflage auf dem Programm steht – Hand an seine Klassiker legt, um entweder Fehler und Ungereimtheiten auszumerzen und sprachliche Patzer zu glätten. Das war der Fall bei seiner Hexer-Reihe, die ja im Groschenroman-Milieu entstand und zu seinen erfolgreichsten Outputs zählt, und ich bin mir sicher, das hat auch bei der vorliegenden Neuauflage der Saga bei Blanvalet stattgefunden. Vorwort oder Einführung gibt es nicht (anders wie beim „Hexer“).  Außerdem hat man wieder einmal die Gelegenheit verpasst, die vier zur Saga gehörenden Kurzgeschichten mitzuliefern, so dass auch diese Ausgabe am Ende nicht komplett sein wird. So bleibt dem Komplettlisten nichts anderes übrig, als nach „Das Vermächtnis der Feuervögel“ (Piper) zu suchen, um die allererste Geschichte „Malicia“ zu ergattern. „Vela, die Hexe“, „Der Tag vor Harmageddon“ und „Der Tempel der Unsterblichkeit“ finden sich in „Von Hexen und Drachen“ (Bastei-Lübbe).

Bei dieser Neuausgabe aus dem Hause Blanvalet gibt es aber zur Abwechslung auch mal etwas Positives zu vermelden: wir bekommen eine farbige Gesamtsicht Enwors geliefert, und das ist in der heutigen Zeit ja nun auch nicht mehr Standard.

Lovecraft statt Tolkien

Jetzt sind wir schon beim Hauptpunkt angelangt: Ist der Hexer ganz offensichtlich von Lovecraft inspiriert, ist es Enwor nicht minder, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Und diese Art und Weise ist so eindrucksvoll, dass Enwor bis heute die beste Fantasy-Serie ist, die aus deutschen Landen kommt. Ich beziehe mich hier allerdings auf die ersten zehn Bände, die ich mehrmals gelesen habe, während ich Buch 11 und alles andere bisher nicht angefasst habe. Ob es diesmal anders wird, kann ich noch nicht sagen, aber ich habe vor, die gesamte Neuauflage zu begleiten.

Was diese Serie so besonders macht, ist natürlich ihr Setting. Das erste Buch erschien 1983. Man kann sich denken, dass die Fantasy-Landschaft damals eine gänzlich andere war als heute. Horror war groß (heute findet er als starkes Genre so gut wie überhaupt nicht mehr statt), und Figurenzeichnungen wie in der modernen Fantasy üblich, gab es eigentlich nicht. Alles richtete sich nach Tolkien aus, er war so gesehen magnetisch Nord, auf fast jedem neuen Fantasybuch war zu lesen: „Der neue Tolkien“ oder „In der Tradition Tolkiens“, und ähnliches. Enwor hat nichts mit Tolkien zu tun. Überhaupt nichts. Aber, wie bereits erwähnt, eben mit Lovecraft. Das mag nicht gleich ins Auge springen, denn Hohlbein entwarf hier mit seinem Freund Dieter Winkler eine eigenständige Welt und griffelte nicht am Lovecraft-Mythos herum, wie es heute schon fast üblich geworden ist. Die Idee zu Enwor hatten die beiden bereits seit ihrer Jugend, und während Hohlbein diese Welt an den nordamerikanischen Kontinent anpasste, entwarf Winkler die beiden Satai und ihr unzerstörbares Schwert Tschekal. Skar wurde nach seinen zahlreichen Narben benannt und Del ganz einfach nach der „Delete“-Taste der Computertastatur, schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der diese Dinge noch faszinierten.

Es gibt keine Große Alten und keine fischköpfigen Rednecks, aber es gibt etwas ähnliches. Es gibt starke Reminiszenzen, und schließlich gibt es die Sternengeborenen. 

Interessanterweise macht Hohlbein im vormals EndWorld genannten Kosmos das, was Stephen King später mit seinem Dunklen Turm machen sollte (auch wenn man beide Welten nun wirklich nicht miteinander vergleichen kann); er verlässt unsere Erde nicht, um sein Setting zu entfalten, sondern setzt seine Abenteuer in die Zukunft, direkt in eine Zeit hinein, da es unsere Zivilisation schon seit vielen Zehntausend Jahren nicht mehr gibt. Aber das war nicht das einzige Innovative.

Heute spricht man gerne von Grimdark, wenn es sich um eine Geschichte handelt, die ein gewissen Maß an „Realismus“ in sich birgt. Mit diesem Realismus ist keineswegs ein Mangel an Fantasie gemeint (ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass es Hohlbein daran garantiert nicht mangelt), sondern vor allem das Beiseitelegen eines schwarzweiß-Denkens. Das war zumindest in Deutschland 1983, als „Der wandernde Wald“ erschien, ein Novum. Die Gewaltdarstellungen sind hier brutal und detailliert. Zwar wird Hohlbein bei der Entwicklung der Grimdark-Fantasy nicht erwähnt, aber er war durchaus der erste, der etwas Neues versuchte. Und diese Welt, die er gemeinsam mit seinem Freund entwarf, war für damalige Verhältnisse definitiv das Ding der Stunde. Ich selbst bekam Enwor erst zehn Jahre später in die Finger und es war die erste Fantasy-Saga, die ich (nach dem Herrn der Ringe) überhaupt gelesen hatte. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ich las alle zehn Bücher innerhalb eines Monats. Etwas Vergleichbares war mir zu diesem Zeitpunkt nur mit Stephen King passiert.

Der wandernde Wald

Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Enwor ein ganzer Zyklus werden würde, und so ist Buch 1 für all jene geeignet, die einfach mal in diese Welt hineinschnuppern wollen. Ohne gleich das ganze Werk zu lesen. Der wandernde Wald funktioniert nämlich als eigenständige Geschichte, die keine weiteren Erkenntnisse benötigt oder am Ende mit einem saftigen Cliffhanger aufwartet.

Dennoch sind hier alle Zutaten vorhanden: Die beiden Satai Skar und Del, die einer sehr interessanten Kriegerkaste angehören, laufen eigentlich immer im roten Bereich. Dass wir sie hier als Freunde kennen lernen, macht die spätere Entwicklung um so tragischer. Hohlbein hat das Spannungsfeld dieser beiden Krieger so aufgebaut, dass es einen wichtigen roten Faden durch den ganzen Zyklus zieht. Skar selbst ist eine Blaupause für Logen Neunfinger aus Abercrombies Klingen-Trilogie. Hätte Hohlbein sein Werk heutzutage verfasst, würde das vermutlich ganz genau so gesehen werden – nur umgekehrt. Ein Krieger, der über die Möglichkeiten seines Körpers zu gehen gelernt hat und der im Kampf von einem Furor erfasst wird, den er gar nicht mehr kontrollieren kann.

Stephen King Re-Read: Feuerkind

Als Firestarter (Feuerkind) im Jahre 1980 veröffentlicht wurde, war Stephen King bereits ein echtes Phänomen. Er lebte in seinem berühmten Herrenhaus in Bangor, Maine, verdiente mehr Geld als er ausgeben konnte und sein neuer Vertrag mit New American Library war ein echter Glücksfall. Sie behandelten ihn dort besser als jemals bei Doubleday, aber was wirklich zählte: sie verstanden es besser, seine Bücher zu verkaufen. Ob es an seinem massiven Alkoholkonsum liegen mochte, oder an seiner neu hinzugewonnenen Kokainsucht; die Bücher, die er in dieser Periode seines Schaffens schrieb gehören zum dunkelsten und gemeinsten, aber auch zu den weniger umfangreichen Romanen seiner Karriere. Außerdem enthüllten sie eine wesentliche Tatsache über King: er schrieb überhaupt keinen Horror.

Bill Thompson, der Herausgeber von Doubleday, der King entdeckt hatte, hatte sich noch Sorgen gemacht, dass King als Horrorschriftsteller eingestuft werden würde, als dieser ihm Salem’s Lot vorgelegt hatte – und wieder, als King ihm die Handlung von Shining erzählte. „Zuerst das telekinetische Mädchen, dann die Vampire, jetzt das Spukhotel mit dem telepathischen Kind. Du wirst gebrandmarkt sein,“ hatte er angeblich gesagt. Für Doubleday war Horror schmierig und sie arbeiteten mit King nur widerwillig. Die Bücher wurden billig gedruckt, hatten armselige Cover, und die hohen Herren konnten sich nicht mal an seinen Namen erinnern, so dass sich Thompson wieder und wieder in der Rolle wiederfand, King, der ihnen allen ihr Urlaubsgeld einbrachte, im eigenen Hause publik zu machen.

New American Library hingegen war ein Taschenbuchverlag, der die Macht der Genreliteratur verstand. Sie investierten erheblich mehr in Kings Karriere als es Doubledy je getan hatte. Für Doubleday war King eine Überraschung, für New American Library war er eine Marke.

Gibt es aber über das Marketing hinaus etwas, das King als Horrorschriftsteller auszeichnet? Sieht man sich heute seine frühen Bücher an – Dead Zone (ein Mann plant ein politisches Attentat), Feuerkind (Vater und Tochter auf der Flucht vor der Regierung), und Cujo (tollwütiger Hund stellt Frau und Kind in einem Auto), dann kommt man zu der Erkenntnis, dass ohne Horror-Boom, der sich diese Titel einverleibte, ohne die Marke „King-Horror“, die auf die Cover gedruckt wurden, heute diese Bücher eher als Thriller verkauft werden würden. King selbst behauptete, er schriebe Spannungsromane. Kurz bevor Feuerkind veröffentlicht wurde, gab er dem Minnesota Star ein Interview, in dem er sagte:

„Ich sehe den Horrorroman als nur einen Raum in einem sehr großen Haus, das man als Spannungsroman kennt. Dieses besondere Haus schließt solche Klassiker wie Hemingways Der alte Mann und das Meer und Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe mit ein.“

Und natürlich seine eigenen Bücher.
In einem anderen Interview sagte King:

„Die einzigen meiner Bücher, die ich für unverfälschten Horror halte sind Brennen muss Salem, Shining, und jetzt Christine, weil sie keine rationale Erklärung für all die übernatürlichen Geschehnisse anbieten. Carrie, Dead Zone, und Feuerkind haben mehr mit der Science Fiction- Tradition zu tun … The Stand wiederum steht mit je einem Bein in beiden Lagern …“

Warum also greift das Horror-Etikett?

King schreibt über Menschen in Extremsituationen, deren Gefühle von Angst, Schmerz und Hilflosigkeit dominiert werden, die dunkel und drohend selbst dann durchscheinen, wenn noch gar nichts passiert ist. Er ist ein Meister, wenn es darum geht, die Spannung aufrecht zu erhalten. Er verwendet viel Zeit auf die Beschreibung des menschlichen Körpers, verweilt bei den physischen Details der Unvollkommenheit und des Verfalls (Altersflecken, Verwachsungen, Akne, Narben), wie er auch die Körperlichkeit an sich feiert (Sex, Erektionen). Seine Charakterzeichnungen sind mit breiten Strichen gesetzt, im Zentrum stehen meist die körperlichen Makel (Schuppen, Glatzen, schlechte Haut, Fettleibigkeit, Magersucht), was viele seiner Figuren ins Groteske verzerrt. King schreibt viel über Kinder und Jugendliche, seine Hauptfiguren sind in der Mehrzahl attraktiv.

Es sind diese intensiven Szenen, bestehend aus Sex und Gewalt, den attraktiven Hauptfiguren, und die Betonung der Angst und Spannung, die sein Publikum an den Horrorfilm erinnert, wo Sex, Gewalt, Jugend und Angst sich in der Regel tummeln. Als King seine erfolgreichste Phase hatte, boomte auch der Horrorfilm (1973 – 1986 war die goldene Ära der amerikanischen Horrorfilme), und es ist nicht schwer, das eine mit dem anderen in Verbindung zu bringen. Der Vergleich von Kings Werken mit Filmen ist das, worauf es Kritiker von Anfang an angelegt hatten, und King selbst betonte oft genug, dass er ein extrem visueller Schriftsteller sei, der nicht in der Lage ist, zu schreiben, bevor er nicht die Szene im Kopf hat. Die öffentliche Meinung, King sei ein Horrorschriftsteller, wurde durch die Verfilmungen von Carrie und Shining noch zementiert. Wenn etwas also als „Horror“ vermarktet wird, wenn es die Leute an „Horror“ erinnert, und wenn der Autor kein Problem damit hat, als Horrorschriftsteller zu gelten, dann ist es Horror. Obwohl King darauf hinweist, dass Science Fiction ein besseres Label für seine Arbeiten wäre.

Feuerkind ist eines der Bücher von King, wo das Label Science Fiction hervorragend passt. Der Roman wurde als Verfilmung ein Flop und seitdem hat sich das Interesse an Firestarter im Laufe der Zeit getrübt. Das ist nur eins von vielen Beispielen, wo ein mieser Film ein gutes Buch quasi ruiniert.
1976 begonnen, gab King das Buch zunächst auf, weil es ihn zu stark an Carrie erinnerte. Der Hauptcharakter war ein Ebenbild seiner zehnjährigen Tochter Naomi. King war zunächst fasziniert von Pyrokinese und dann von einer Figur wie Carrie White, die ihre psychischen Kräfte an ihre Tochter weitergegeben hatte.

Das Buch liest sich wie eine paranoide, politisch linke Phantasie auf Amphetaminen, die mit der zehnjährigen Charlie McGee und ihrem Vater Andy beginnt. Sie befinden sich auf der Flucht vor einer Regierungsorganisation, die sich „Die Firma“ (The Shop) nennt. Andy und seine Frau hatten in den 60ern an einem Regierungsexperiment teilgenommen, bei dem ihnen die LSD-artige Substanz Lot 6 verabreicht wurde. Die Droge aktivierte ihre latent vorhandenen psychischen Kräfte, die an Charlie weitervererbt wurden. Ihr ist es möglich, allein durch ihre Gedanken, Feuer zu legen, was ihr aber von ihren Eltern als eine böse Sache verboten wurde. Charlies Mutter wurde von der Firma getötet, und Andy hat nur die Fähigkeit, den Geist anderer zu kontrollieren, was allerdings jedes mal, wenn er seine Fähigkeit anwendet, Schäden an seinem Gehirn zurücklässt.

In die Enge getrieben überredet Andy Charlie, ihre Kräfte von der Leine zu lassen und sie lässt eine friedlich gelegene Farm in einem Inferno untergehen und tötet dabei Dutzende von Agenten auf ihrer Flucht. Ein paar Monate später werden sie von dem Auftragskiller John Rainbird gefangen genommen. Das letzte Drittel des Buches ist eine Chronik dieser Gefangenschaft, wo Rainbird ein Psychospiel mit Charlie beginnt, indem er sich anfangs als einfache Ordonanz ausgibt, um sich mit ihr anzufreunden und ihre Kooperation für die Firma erlangt. Von seiner Tochter getrennt mutiert Andy zu einem übergewichtigen Pillensüchtigen. Alles endet in einer Scheune, wo Charlie Rainbirds Spiel durchschaut und den Tod ihres Vaters mitansehen muss.

Das klingt nach einer einfachen Geschichte, aber zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere feuert King aus allen Rohren, und so ist sie alles andere als das. Voller Handlungsabläufe, die derart lebendig beschrieben sind, dass sie an verschiedenen Stellen in surrealistische Poesie übergehen (explodierende Hühner rennen umher, Wachhunde werden verrückt vor Hitze und wenden sich gegen ihre Halter), ist der Roman gespickt mit subjektiven Eindrücken der Figuren, die sich in fast schon wahnwitzig lyrischen Ergüssen äußern. King wurde vorgeworfen, er würde sich vor Sexszenen scheuen (Peter Straub sagte einmal: „Stevie hat Sex bisher noch nicht entdeckt.“), aber in Feuerkind ist die grundlegende Geschichte die von Charlies sexuellem Erwachen.

Es gibt nur wenige Dinge, die kraftvoller sind als die Beziehung zwischen Vätern und Töchtern, die Popkultur hat enorm viel Aufwand betrieben, das Unbehagen der Väter angesichts der Sexualität ihrer Töchter zu thematisieren, angefangen von der Kontrolle, die Väter über den Kleidungsstil ihrer Töchter ausüben wollen. Zu Beginn des Buches ist Charlie ein kleines Mädchen, die an der Hand ihres Vaters spaziert und nicht weiß, was sie zu tun hat. Am Ende des Buches ist ihr Vater tot. Zwar kann sie ihre pyrokinetische Fähigkeit noch nicht voll kontrollieren, die aber ist wesentlich stärker als irgendjemand angenommen hatte, und sie befindet sich auf dem Weg nach New York, um ihre Geschichte zu erzählen.

Sexualität und Feuer sind linguistische Zwillinge („Brennende Leidenschaft“, „Das Feuer der Begierde“, „Glimmende Augen“) und es ist ein Freudianischer Witz, dass sie von ihren Eltern das Verbot bekommt, die „böse Sache“ zu tun. Schnell verwandeln sich diese Stellen von Subtext in Blanktext, dann nämlich, wenn Rainbird sich ihr widmet, um „ihre Verteidigung zu durchdringen“, sie „wie einen Safe zu knacken“ und um sie zu töten, während er ihr tief in die Augen schaut.
„Es ist eine sexuelle Beziehung“, sagte King später über diese beiden Figuren in einem Interview. „Ich wollte das Thema eigentlich nur streifen, aber es macht den Konflikt nur noch monströser.“
Als ihre Hemmungen fallen, ihre Fähigkeit einzusetzen, genießt Charlie ihre neuentdeckte Stärke, die ihr besondere Privilegien einbringt und sie zum Mittelpunkt eines jeden Mannes im Buch macht. Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass, wenn sie ihre Kräfte nicht zu beherrschen lernt, sie die Welt zerstören könnte; ein Klischee über die weibliche Sexualität (wenn sie einmal anfangen, hören sie nicht mehr auf). Als Charlies Sexualität mehr und mehr erwacht und eindeutiger wird (sie hat sogar Träume, in denen sie nackt auf einem Pferd zu John Rainbird reitet), werden auch die heimlichen Wünsche der Männer, die Kontrolle über sie ausüben, selbstzerstörerischer. Andy versucht einen letzten Ausbruch mit Hilfe seiner Gabe, was aber im Unterbewusstsein der Opfer ihre geheimen Obsessionen entfesselt und sich in Selbstzerstörung äußert. Für Dr. Pynchot, dem zuständigen Psychiater von Charlie und Andy äußert sich das Verdrängte in Form eines Missbrauchs, den er einst durch Kommilitonen erleiden musste. Seine Besessenheit betrifft den „Vulva-ähnlichen“ Abfallzerkleinerer. Er kleidet sich mit der Unterwäsche seiner Frau und tötet sich, indem er die Hand hineinsteckt, während er läuft. Der Kopf der Organisation, Cap Hollister wird von eingebildeten, glitschigen Schlangen heimgesucht, die überall auf ihn warten, um ihn zu beißen.

Eines der stärksten Bilder des Buches ist Charlie, wie sie vor der brennenden Scheune steht, nachdem die Wildpferde durch die Holzwände gebrochen sind, ringsherum die verwüsteten Utensilien der Armee, ihr toter Vater hinter ihr, grenzenlose Freiheit vor sich. Ein kraftvolles und kitschiges Bild von einer jungen Frau und ihrem sexuellen Erwachen. Weit entfernt davon, lächerlich zu sein.
Feuerkind war das mittlere seines „Werk-Trios“ zu dieser Zeit, bestehend aus Dead Zone, Feuerkind und Cujo. Für welches man sich auch entscheiden will: zu diesem Zeitpunkt ahnte die Welt noch nichts von Cujo …

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