Possenspiele

Schlagwort: Schauerliteratur (Seite 5 von 27)

Diese Rubrik vereint die Analyse und Beschäftigung mit der unheimlichen Literatur als Ganzes. D.h., dass auch „strange story“, „weird fiction“, „pure horror“, „geistergeschichte“ und sogar manche Phasen der „crime fiction“ und der „gothic novel“ hier einfließen.

Smee / A. M. Burrage

Der Schriftsteller A. M. Burrage äußerte einst den Wunsch, seinen Lesern einen wohligen Schauer über den Rücken zu jagen, so dass sie nicht anders können, mit einer brennenden Kerze zu Bett gehen, ganz unerheblich, wie tapfer sie sich fühlen mögen. Doch seine Gespenstergeschichten, von denen eine Auswahl 2022 in einer opulenten Ausgabe der British Library erschien, bieten weit mehr als bloßen Grusel. Der in Middlesex geborene Burrage (1889-1956) begann bereits während seiner Schulzeit mit dem Schreiben von Geschichten, zunächst für Jugendmagazine. Doch erst nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg 1918 reifte er zu einem meisterhaften Autor übernatürlicher Geschichten heran. Seine besten Werke entstanden in den 1920er Jahren, einer Zeit, in der die Gespenstergeschichte eine ihrer zahlreichen Renaissancen erlebte. Dennoch ist sein Werk hierzulande weitgehend unbekannt: Eine deutsche Ausgabe seiner Erzählungen gibt es bis heute nicht.

Burrages Erzählungen sind von unterschiedlicher Qualität, sie reichen von sentimentalem Pathos bis zu purem Horror und phantastischen Alternativrealitäten. Die genaue Anzahl seiner Gespenstergeschichten ist nicht eindeutig belegt, es sollen aber weit über hundert sein. Material für eine deutsche Auswahl gäbe es also genug, aber freilich fehlen hierzulande die Leser.

Smee

Die Geschichte „Smee“ spielt an einem Weihnachtsabend und folgt der beliebten Tradition klassischer Spukgeschichten: Sie wird als Erzählung in einer Erzählung präsentiert. Tony Jackson sieht sich gezwungen, seinen Freunden zu erklären, warum er sich weigert, an ihrem Versteckspiel nach dem Abendessen teilzunehmen. Um sein Zögern zu begründen, erzählt er von einem unheimlichen Erlebnis in der Vergangenheit: einem Weihnachtsabend, an dem er mit elf Freunden das Spiel „Smee“ spielte. Dieses Spiel ähnelt dem klassischen Versteckspiel, hat aber eine raffinierte Variante. Der Name leitet sich von der phonetischen Ähnlichkeit zu „It’s me“ („Ich bin’s!“) ab.

Eine Person wird per Los zum „Smee“, wobei nur sie selbst um ihre Rolle weiß. Nach dem Erlöschen des Lichts versteckt sich „Smee“, während die anderen ihn oder sie suchen. Trifft ein Spieler auf einen anderen, fragt er: „Smee?“ Antwortet der andere mit „Smee!“, zieht der Fragende weiter. Der echte „Smee“ jedoch bleibt stumm, und wer ihn findet, verharrt ebenso schweigend bei ihm – bis alle Spieler beisammen sind. Der Letzte, der den Kreis erreicht, verliert das Spiel.

Was Jackson an jenem Weihnachtsabend jedoch erlebte, ging über ein harmloses Spiel hinaus: Ein Geist hatte sich unter die Mitspieler gemischt. Das Szenario ist perfekt für eine Spukgeschichte – ein weitläufiges, altes Haus mit unzähligen Zimmern und dunklen Gängen, dazu die Warnung des Gastgebers, bestimmte Bereiche aufgrund baulicher Eigenheiten besser zu meiden. In absoluter Dunkelheit verliert sich die Orientierung, und ein ungebetener Mitspieler bleibt unbemerkt, bis es zu spät ist.

„Smee“ spielt meisterhaft mit der Angst vor der Dunkelheit. Während Weihnachten gemeinhin mit heimeligen Lichtern verbunden wird, hat es in der angelsächsischen Tradition auch eine enge Verbindung zu Geistergeschichten. Doch während viele moderne Leser mit solchen Erzählungen wenig anfangen können, weil ihnen das Gespür für subtile Atmosphäre und literarische Raffinesse fehlt, entfalten sie für Kenner ihren vollen Zauber. Wer sich auf die düstere Eleganz solcher Geschichten einlassen kann, erlebt einen Genuss – ähnlich dem Weihnachtsfest selbst.

Die späte Mrs. Radcliffe

Um das spätere Leben von Mrs. Radcliffe ranken sich einige Phantasien. Während die Jahre schweigend vergingen, machten verschiedene Gerüchte die Runde. Es wurde behauptet, sie sei in Italien, um Material für eine neue Romanze zu sammeln. … Ein anderer hartnäckiger Bericht besagte, dass sie von ihren eigenen geisterhaften Schöpfungen in den Wahnsinn getrieben und in eine Anstalt eingewiesen worden sei. Ein unbedeutender Dichter jener Zeit brachte in aller Eile eine ‚Ode an Mrs. Radcliffe über ihren Wahnsinn‘ in Druck. Oft wurde öffentlich behauptet, sie sei tot, und in einigen Zeitungen erschienen Nachrufe auf sie. Das Lustige an der Sache ist, dass sie selbst sich nicht die Mühe machte, mehr als eine der irreführenden Meldungen zu widerlegen. In einer erstaunlichen Anekdote, die von Aline Grant, der Biografin von Mrs. Radcliffe, erzählt wird, wandte sich Robert Will, ein Schreiberling, nach einer Meldung über den Tod der Schriftstellerin an den Verleger Cadell und bot ihm eine Romanze – The Grave – unter dem Namen „The late Mrs. Radcliffe“ an. Daraufhin erschienen Anzeigen in den Zeitungen.

Amüsiert über diese lächerliche Nachricht kam Mrs. Radcliffe eines Abends am Soho Square an und stieg lautlos die steilen Stufen zum Dachboden von Robert Will hinauf. Sie öffnete geräuschlos die Tür und trat in eine kleine, schwarz verhangene Kammer, die mit Totenköpfen, Knochen und anderen Friedhofsutensilien geschmückt war. Eine Sanduhr stand auf einem Sarg, und ein Beistelltisch war mit gekreuzten Schwertern und einem Dolch geschmückt. Ein junger Mann in Mönchskutte arbeitete fieberhaft mit seinem Federkiel im Schein einer Kerze.

Mrs. Radcliffe setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und flüsterte: „Robert Will, was tust du hier?“
Dem jungen Mann standen vor Schreck die Haare zu Berge, als er die bleiche Erscheinung betrachtete, die im flackernden Licht grässlich wirkte. Ihre dünne, weiße Hand streckte sich langsam aus, ergriff das Manuskript und hielt es über die Kerzenflammen. Als es zu Asche zerfallen war, verließ die Besucherin den Raum so lautlos, wie sie ihn betreten hatte. Am nächsten Tag beeilte sich der verängstigte Robert Will, den Verleger zu informieren, dass der Geist von Mrs. Radcliffe das Manuskript verbrannt hatte.

Dennis Etchison: Blut und Küsse

Dennis William Etchison gilt als einer der originellsten lebenden Horror-Autoren Amerikas, gewann dreimal den British Fantasy Award als Autor und einmal den World Fantasy Award als Herausgeber.

The Blood Kiss (dt. Blut und Küsse) war Etchisons dritte Sammlung von Stories, die doch tatsächlich (und man wundert sich) von Bastei/Lübbe 1990 als bisher einzige Veröffentlichung des Meisters psychologischen Horrors auf deutsch erschien. Vermutlich ein Zufall, denn mit der Klasse, mit der Etchison aufwartet, lässt sich kein goldener Bart finanzieren. Das erklärt auch, warum er in Deutschland nahezu unbekannt ist und es kaum einer unserer Verlage angehen wird, diesen großartigen Autor für das hiesige Lesepublikum zu erschließen.
Der Reiz von Etchisons Geschichten, die er selbst so beschreibt:

„… ziemlich dunkel, bedrückend, fast pathologisch nach innen gerichtete Fiktionen über den Einzelnen und sein Bezug zur Welt,“

wird von ihrer Skizzenhaftigkeit erzeugt. Geschehnisse werden anders beleuchtet als gemeinhin üblich. Hinter den Zeilen entsteht eine Menge dunkler Raum, der angereichert ist mit Unbenennbarkeiten. Er lädt ein, sich in ihm zu verlieren, es gibt keinen Weg zurück. In diese Texte dringt man ein oder man bleibt außerhalb stehen. Einen Mittelweg gibt es nicht. Die Sätze nehmen den Leser weder bei der Hand, noch lullen sie ihn ein. Am Ende bleibt das trockene Gefühl auf der Zunge, das Gefühl, etwas Verbotenes beobachtet zu haben, das man nicht ganz versteht, obwohl man es doch gesehen hat; wie ein Alptraum, an den man sich am Morgen nicht mehr erinnern kann. Roh liegen diese Texte vor uns, scheinen keinen Körper zu besitzen, keinerlei Oberfläche, bestechen durch ihre raffinierte Tiefe und einen einzigartigen Stil.

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