Der umfassende Datenspeicher von Goodreads wirft Peter Straubs „Geisterstunde“ auf Platz 15 der größten Horrorromane aller Zeiten aus. Es gibt nur wenige Romane des Genres, die in den 70ern geschrieben wurden und den Test der Zeit so makellos bestehen konnten. Straubs großes Können und seine subtile Überlegenheit lässt fast alle Romanciers der düsteren Thematik ziemlich alt aussehen. Gegenüber den besten Horrorgeschichten haben Romane ganz allgemein kaum eine Chance, aber die Handvoll überragende Werke, die es da draußen gibt, stehen jeder Bestenliste gut zu Gesicht. So natürlich auch dieses, obwohl es nicht mein Lieblingsbuch von Straub ist.
WeiterlesenSchlagwort: Stephen King (Seite 17 von 22)
Der vierte Band in Stephen Kings Saga vom Dunklen Turm bietet einen Abstecher in die Vergangenheit Rolands von Gilead und erzählt, wie er wurde, was er ist. Seit dem ersten Band haben wir immer wieder kleine Einblicke in die Vergangenheit des letzten Revolvermannes bekommen, aber hier widmet sich quasi das ganze Buch seiner Geschichte.
Da mag es fast schon beiläufig scheinen, dass sich in Wizard and Glass (dt. Glas) die Kosmogonie dramatisch verschiebt und alle Werke Kings unter den Fittichen des Turms vereint. Sechs Jahre hat es gedauert, bis der Cliffhanger des vorigen Bandes – The Waste Lands – seine Fortsetzung erfuhr, aber 1997 stand dieser entscheidende Band endlich in den Regalen.
In der zwischen den Romanen liegenden Zeitspanne erschütterte Edward Witten das Gebiet der theoretischen Physik, indem er behauptete, dass unsere Existenz elf Dimensionen enthalte, wobei er sich auf John Schwarz und Michael Greenes früheres Konzept der Stringtheorie stützte. Diese Extradimensionen sind ineinander gefaltet und in einer sehr interessanten Struktur ineinander verflochten. Der Raum, den wir alle bewohnen, wäre damit präsenter als allgemein angenommen und somit ein eigener Körper.
Was die Menschheit als das Universum wahrnimmt, ist in Wirklichkeit nur eine riesige Vier-Membran-Einheit, wobei die vierte Brane die Zeit ist, die in weiteren sieben Branen wirkt. So wie sich dreidimensionale Wesen auf der Erde bewegen und mit anderen dreidimensionalen Subjekten und Objekten interagieren, so könnte sich auch ein dreidimensionaler Raumkörper bewegen und vielleicht mit anderen Branen interagieren und kollidieren, was zu einer massiven Zerstörung führen würde.
King hebt in Wizard and Glass die Lebendigkeit des Multiversums heraus, nämlich tatsächlich als einen riesigen Körper. Er führt dieses Konzept bis zum Ende der Serie fort, wo ein Verbündeter Rolands sagt:
„Diese Realitäten gleichen einem Spiegelkabinett, in dem es jedoch keine exakt gleichen Reflexionen gibt. Das ist ein Bild, auf das ich später zurückkommen möchte, aber das hat noch etwas Zeit. Vorerst möchte ich nur, dass ihr versteht – oder einfach akzeptiert –, dass die Realität organisch ist, dass sie lebt.“
(Band 7: Der dunkle Turm)
Die animistische Darstellung eines Multiversums erlaubt es King nicht nur, sich auf Ängste vor körperlicher Verletzung zu berufen, sondern seine karrierelange Kritik am militärisch-industriellen Komplex fortzusetzen. Diese Kritik, die auf der Verletzung oder Verstümmelung des menschlichen Körpers beruht, findet sich im Arrowhead Project seiner Novelle „Der Nebel“ und in den „Schwachstellen“, die das Multiversum bevölkern und erstmals in Wizard and Glass zu sehen waren.
King beginnt, seine anderen Werke in Wizard and Glass gezielt in den Mythos des Dunklen Turms einzubinden. Reisen zwischen parallelen Universen finden in den ersten drei Romanen zwar ebenfalls statt, die Abstecher führen aber nie in jene Settings hinein, die King vorher beschrieben hatte. Roland und seine Revolverheldenkollegen finden sich auf dem Kansas Turnpike in der Nähe von Topeka wieder. Sie erkennen schnell, dass dieses Kansas nicht ihr eigenes ist, als sie eine Zeitungsschlagzeile lesen, in der das Wüten von „Captain Trips“ beschrieben wird, die Supergrippe, die die Welt von The Stand verwüstet hat. King zieht in diesem Roman eines seiner epischsten und erfolgreichsten Werke in den Mythos des Dunklen Turms hinein und verbindet die Angst vor Krankheit, Tod und Grab mit dem Konzept eines lebendigen Universums. Die Ergebnisse liefern eine interessante Vermischung von Physik und den Konventionen der Gothic Novel, eine der erfolgreichsten Konklusionen aus der gesamten Dunklen-Turm-Serie.
Um das Konzept des Lesers des Multiversums zu ändern, muss King natürlich die Sprache und die Metaphern ändern, die zur Beschreibung des Multiversums verwendet werden. Der Kosmos ist bis dahin als ein Objekt beschrieben worden, typischerweise als ein Gewebe der Raumzeit. Dieses Gewebekonzept geht auf Einsteins Untersuchung der Schwerkraft und der Krümmung von Raum und Zeit aufgrund der Schwerkraft zurück. Auch King verwendet Gewebe und beschreibt ein dünnes Gewebe als „Stellen, wo das Gewebe der Existenz fast völlig abgenutzt ist. Es werden immer mehr, da die Macht des Dunklen Turms nachlässt.“
Rolands Crew reiste durch ein solches Loch im Gewebe der Raumzeit in das Universum von The Stand, eine Öffnung, die auch für die Übertragung von Krankheit, Bösem und Tod steht. Der durch die Brane-Theorie herbeigeführte Wandel im Nachdenken über das Universums vom Objekt zum Subjekt folgt kurz darauf. Roland erklärt:
„Schwachstellen kommen nicht natürlich vor – sie sind Schwären auf der Haut der Existenz und können nur existieren, weil irgendetwas schief geht. In allen Welten.“
Indem er absichtlich von der Materie zu Wunden und Haut, also zu biologischen Beschreibungen übergeht, haucht King seinem Multiversum für den Rest des Epos Leben ein. Krankheiten erscheinen nicht nur auf der Haut des Multiversums, medial begabte Figuren können auch „wie mit einer Injektionsspritze Löcher in den Muskel der Existenz stechen“. King begnügt sich in seiner Aussage nicht damit, dass ein ganzes Universum krank sein kann (wie in The Stand), sondern geht davon aus, dass sich Krankheiten von einem Universum zum anderen ausbreiten können. Damit vergrößert er die Ängste des Schauerromans vor Krankheit und Tod auf den größten gedachten Körper, den Kosmos.
Das alles schwingt sich neben dem eigentlichen Handlungsweg auf, läuft unmerklich nebenher und bildet den Hintergrund. King subsumiert von jeher die westlichen Elemente mit ihrer ganzen Unbeständigkeit, kulturelle Überzeugungen werden ständig neu abgesteckt, und so bekommen wir hier ein postapokalyptisches Westernmotiv, als Roland von seiner Vergangenheit in Gilead erzählt. Dabei ist nicht einmal der Schauplatz, der dieser Erzählung vorangeht, ein willkürlich gewählter Ort. Kansas ist zum einen amerikanisches Kernland und erlaubt King, den Zauberer von Oz einzuweben. Dieser Grenzstaat, Heimat des Sklavenkonflikts als auch religiöser Auseinandersetzungen, betont bereits stark die amerikanischen Werte. Hier kehrt Roland in sich und teilt seine Geschichte, die eindeutig darauf abzielt, diese Werte in einer Welt wiederherzustellen, sie sich ständig verändert und deren moralische Grenzen sich immer weiter nach außen verschieben.
In „Glas“ spielt King mit der Romeo und Julia-Erzählung. Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade dieses Thema in den 90er Jahren wieder auflebte, neben „Der mit dem Wolf tanzt“, „Erbarmungslos“ und „Tombstone“. Wie der Schauerroman auch, untersucht der Western die moralischen Grenzen Amerikas und bietet mehrdeutige Darstellungen von Gut und Böse. Roland erzählt von einer Zeit, wo Grenzen noch existierten, Recht durchgesetzt wurde und die Sonne am Abend im Westen unterging.
Kings Absicht, eine riesige, verwirrende Landschaft zu erschaffen, die mit Tolkien und Sergio Leone gleichzieht, führte ihn dazu, ein Multiversum voller Möglichkeiten zu zeigen. Wenn King in seiner Saga traditionelle Konventionen der Gothic Novel in ein solches Multiversum einführt, sei es das Unheimliche oder die moralische Ungewissheit, greift er dabei auf die theoretische Physik zurück, um beides zu vermischen. Die verschiedenen Welten, gedacht als eigenständige Körper, universelle Variationen der Existenz und sich verschiebender Grenzen, erzeugen ein episches und schreckliches Landschaftsuniversum nach dem anderen. Und im nächsten Band holt er das alles in die erzählerische Jetztzeit.
The Waste Lands ist vollgepackt mit literarischen Referenzen und Elementen der Popkultur, die von 1960 – 1980 reichen. Das Problem, das immer wieder der Heyne-Verlag selbst ist, liegt bereits im Titel – tot. -, der somit bereits den ersten Hinweis auf T. S. Eliot (The Waste Land, dt. “Das wüste Land”) ausmerzt, bzw. von vorneherein weder beachtet und wahrscheinlich nicht einmal darum weiß. Etwas Ähnliches schreibe ich natürlich fast vor jedem bei Random House erschienenen Roman, aber für Stephen King dürfte Heyne als Verlagshaus schon immer ein unglücklicher Umstand gewesen sein.
In diesem Buch erfahren wir mehr über Ka, das Ka-tet und der Suche nach dem Turm. Hier macht die Heldengruppe ordentlich Strecke, auch wenn dazwischen noch das letzte Mitglied nach Mittwelt gezogen werden muss.
Und damit begrüße ich euch zu einer weiteren Ausgabe in unserem Stephen-King-Multiversum. Es geht um den dritten Band der Saga vom dunklen Turm, den Mittelpunkt in Stephen Kings Schaffen.
Roland, Eddie und Susannah (wie Odetta jetzt genannt wird) erholen sich von ihrer Zeit, als sie auf der Suche nach Türen zwischen den Welten am Strand entlang reisten. Bald wird klar, dass Roland langsam den Verstand zu verlieren beginnt, denn er hört Stimmen und ist sich nicht mehr sicher, welche seiner Erinnerungen der Wahrheit entspricht. Unterdessen durchlebt der elfjährige Jake in New York eine ähnliche Krise, denn er ist sich sicher, dass er auf dem Weg zur Schule hätte sterben müssen. Roland und seine Gefährten versuchen nun, Jake in ihre Welt zu ziehen, um das Problem der psychischen Doppelung zu lösen.
Die Rose und der Turm
Diese Doppelung wird – obwohl sie auch Roland betrifft – hauptsächlich in der Figur des Jake Chambers sichtbar, der verloren in New York umher irrt. Immer wieder zieht es ihn dabei zu einem bestimmten Grundstück, das eingezäunt als Baugebiet ausgewiesen ist. Dort treffen wir (mit Jake) – neben dem Turm selbst – auf ein starkes, wenn nicht das stärkste Symbol der Turm-Reihe: Die Rose. Tatsächlich kann man dieses Symbol in ihrer ganzen Macht nur dann richtig zuordnen, wenn man auch die anderen Werke Kings mit einbezieht, was zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1992 noch nicht klar gewesen sein mag.
Tatsächlich stellt die allgegenwärtige Präsenz des Turms in einer Unzahl von Formen einen Gott dar, der kein bestimmtes Geschlecht hat. Obwohl er eigentlich ein Nabel ist, ist er natürlich auch ein Phallus. Ebenso erinnert der durch Rosen verkörperte Turm an eine vaginale Symbolik. Das Vorhandensein in einem Tiger, einem Hund oder einem anderen Tier spielt hierbei auf verschiedene Glaubensrichtungen an, die eine göttliche Präsenz in nicht menschlicher Form darstellen. Und er existiert in allen Welten, verankert das Multiversum an seinem Nabel und weicht dem Gut/Böse-Schema aus. Die Gestalt der Rose ist in der ganzen Reihe genauso wichtig wie der Turm selbst, und King benutzt sie nicht, um die Sünden gegen Gott, sondern um die Sünden gegen Frauen zu untersuchen. Das Rosenfeld, das den Turm umgibt, und die Ecksteine, auf denen er sich erhebt, ruft Ängste vor Kolonialismus, ehelichem Missbrauch und männlich dominanten Gottesdarstellungen hervor.
Es sollte nicht vergessen werden, dass King immer wieder auf dieses Thema zurückkommt. Zu Beginn der 90er Jahre hat er gleich drei Romane mit starken Frauenfiguren im Kampf gegen missbrauchende Männer eingeführt. Das Spiel (Gerald’s Game) und Dolores (Dolores Clairborne) zeigen Protagonistinnen, die darum kämpfen, nicht von Männern dominiert zu werden. Diese beiden Werke laufen parallel zueinander, nicht nur durch eine in beiden enthaltene Finsternis, sondern durch die Stärke und Entschlossenheit der weiblichen Figuren. Und nur drei Jahre danach erschien mit Das Bild, das eigentlich Rose Madder heißt, ein ähnlicher Roman, der im Gegensatz der vorher genannten geschrieben wurde, um ihn mit dem Dunklen Turm zu verflechten. Zwar beginnt King diese Verflechtungen erst im vierten Teil der Serie immer mehr mit seinem Gesamtwerk zu verweben, aber die Hinweise auf die Tatsache, dass im Zentrum von Kings ganzem Lebenswerk der Turm steht, sind von Anfang an gegeben.
In Das Bild wird Rose Daniels solange missbraucht, bis sie eine Fehlgeburt erleidet. Sie flieht schließlich vor ihrem Mann und nimmt ihren alten Namen Rose McClendon an. Die Verbindung zum Dunklen Turm besteht nicht nur in ihrem Namen, sondern in dem Bild, das Rose betritt und sich in einer Welt wiederfindet, die eindeutig Mittwelt ist. Eine Inkarnation von Rose ist später auch die weibliche Kriegerin Rosalita Munoz, der wir in Wolfsmond begegnen. Es sind dies unterschiedliche Inkarnationen der Rose und sie liefern jede für sich die Antwort auf den männlichen Turm. Die in New York von Jake gefundene Form der Rose veranschaulicht die männliche Bedrohung durch Kolonialisierung.
Tatsächlich ist es fast unsinnig, diese Dinge stets nur anreißen zu müssen. Kings Werk als Ganzes ist – von Anfang an – derart vollgepackt mit Reminiszenzen, Verweisen und Metaebenen, dass es geradezu lächerlich und ein Stück weit auch erbärmlich dumm ist, ihn als einen Horror-Schriftsteller darzustellen. Sicher, wenn das Leben an sich der blanke Horror ist, dann stimmt das, und der Durchschnittsleser weiß meist nicht, was er da eigentlich liest. Aber viele, die sich für Kritiker halten, sollten es besser wissen, aber auch sie bekommen nur die Oberflächenstruktur mit. An amerikanischen Universitäten ist die King-Forschung allerdings fortgeschritten und offenbart einen literarischen Gehalt, der im Grunde sensationell ist.
Auch wenn ich hier massiv abschweife, ist die letzte Station des Buches nicht vergessen, die mit einem massiven Cliffhanger schließt. Hier verbindet King die Saga vom Dunklen Turm nicht nur mit unserer Realität sondern auch mit unserer Wirklichkeit (was zwei paar Schuhe sind), indem er uns ein Kinderbuch an die Hand gibt, das wir auch tatsächlich kaufen können: Charlie the Choo-Choo von Beryl Evans. Jake kauft es im Buchladen “Manhattaner Restaurant für geistige Nahrung” von Calvin Tower. King löste die Urheberschaft erst später (als er selbst im Buch auftritt) auf. Tatsächlich ist dieses Buch ein Foreshadowing auf Blaine, den Mono, eine Einschienenbahn, mit der die Heldengruppe die Stadt Lud und auch Mittwelt verlässt, um nach Endwelt zu gelangen. Vorher aber werden wir Zeuge einer handfesten dystopischen Auseinandersetzung in Lud selbst, einer alte High-Tech-Stadt, die in einem jahrzehntelangen Krieg verwüstet wurde. Zwei dominierende Banden – die Grauen und die Pubes – kämpfen um die Vormachtstellung. Ich werde auch diesen Handlungsverlauf nicht spoilern, weil ich davon ausgehe, dass wirklich jeder den Dunklen Turm gelesen hat (obwohl ich weiß, dass es nicht so ist). Das Internet ist voller Nacherzählungen und es ist nicht schwer, der Handlung zu folgen, ohne die Bücher gelesen zu haben.
In der Blaine-Szene, die hier abgebrochen und erst im nächsten Band wieder aufgenommen wird, haben wir es mit zwei Themen zu tun: Rätseln und einer Frage, die viele Fans seit Jahren umtreibt: Warum ist Blaine rosa? Die Rätsel, die Blaine fordert, um die Pilger zu transportieren, sind mit Rolands Vergangenheit verknüpft, genauer der Tradition der Rätselwettbewerbe zum Festtag seiner Kindheit. Der Kirmestag war die einzige Zeit, in der das gemeine Volk die Halle der Großväter in Gilead, dem intellektuellen Zentrum Mittwelts, betreten konnte. Jeder konnte ein neues Rätsel auf eine Schriftrolle schreiben und dieses dann in ein Fass in der Halle legen. Wer die meisten Rätsel richtig erraten hatte, gewann die größte Gans des Landes.
Warum ist Blaine rosa?
Was Blaine betrifft, gibt es einige interessante Spekulationen, von denen ich eine hier thematisieren möchte.
Wir erfahren, dass es tatsächlich zwei Einschienenbahnen gab, die den Bürgern von Lud dienten, bevor ihre Zivilisation zusammenbrach – eine war rosa und die andere blau. Aber als Rolands Gruppe eintrifft, liegt die blaue Einschienenbahn als Havarie im Fluss. Dabei handelte es sich um Patricia. Es ist wichtig zu wissen, dass Blaine eine Art gespaltene Persönlichkeit hat. Während Eddie und Susannah versuchen, mit der Einschienenbahn zu sprechen, wird Blaines dröhnende Stimme von einer anderen unterbrochen, die wie “ein verängstigtes Kind” klingt. Es nennt sich selbst Kleiner Blaine, “Der, den er vergessen hat. Derjenige, den er in den Räumen der Ruinen und den Hallen der Toten zurückgelassen zu haben glaubt”.
Einmal an Bord, verbringt King viel Zeit damit, uns über Patricia zu informieren, was wie eine merkwürdige Nebenbemerkung für ein Detail erscheint, das die Handlung überhaupt nicht bestimmt. Blaine erklärt, wie die blaue Einschienenbahn im Fluss gelandet ist. “Patricia hat den Verstand verloren… in ihrem Fall bestand das Problem darüberhinaus in einer Fehlfunktion der Ausrüstung, nicht nur in seelischer Malaise.” Er beschreibt, wie ein elektrischer Brand “Logikfehler” verursachte, die ihre Persönlichkeitssoftware verrückt werden ließ. Dieses Problem drohte auf die Computer überzugreifen, die auch ihn steuerten, so dass er ihre Programmierung isolierte und sie vom Zentralprozessor abschnitt. Dann beging sie Selbstmord, indem sie bewusst von ihrer Bahn abkam und in den Fluss stürzte.
Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Blaine lügt.
Der einzige Mono, von dem wir wissen, dass er eine selbstmörderische Ader hat, ist Blaine selbst. Er wird sich selbst und die Ganze Gruppe umbringen, wenn sie ihm kein Rätsel auftischen können. Patricia kennen wir nur aus der Geschichte, die Blaine erzählt. Wir haben also diese seltsame, unzusammenhängende Geschichte von einem unzuverlässigen Erzähler, einer gespaltenen Persönlichkeit mit der eigentlich falschen Farbe für das Geschlecht.
Es sei denn, Blaine war tatsächlich der blaue Mono und Patricia der rosa Mono. Was wäre also wenn, nachdem Blaine anfing, sich verrückt aufzuführen und Patricia versuchte, ihn vom Hauptserver fernzuhalten, er seine Software in die rosa Einschienenbahn hochgeladen hätte? Das würde den kleinen Blaine sehr gut erklären – das ist Patricia (die Stimme einer Frau kann leicht mit der eines Kindes verwechselt werden, wenn man nie ein Gesicht dazu hat). Und ist das nicht genau das, was Blaine tun würde?
Tatsächlich gibt es ein weiteres Beweisstück: Stephen King hat einen Fetisch dafür, die perfekten Namen für seine Figuren zu finden. Er macht sich viele Gedanken darüber. Und hier haben wir die Geschichte von Blaine. Dem Blue Train. Und das ist natürlich der Hinweis auf John Coltrane und sein gleichnamiges Album von 1958. Zugegeben, das wäre ein ziemlich versteckter Verweis, für Nichtjazzfans unauflösbar. Aber das trifft auf viele andere Verweise, die man als Europäer kaum verstehen kann, auch zu.
Um die Wahrheit zu sagen, treffen wir im nächsten Band noch einmal auf die Farbe rosa, nämlich in Form von Merlins Regenbogen. Im Grunde ist die Frage nach der Farbe viel einfacher und nicht weniger King-typisch zu beantworten. Wieder landen wir bei den Prägungen der Geschlechterrollen. Rosa steht für Mädchen, blau für Jungs. Punkt. Die Farbe rosa aber für Gefahr zu verwenden, ist im Grunde ein Protest an diesen tatsächlich idiotischen Pauschalisierungen.
Sehr guter Zusatz. Bereichert das ganze enorm. Danke!