Obwohl die internationalen Cover hier auch nicht immer solide waren, schoss Heyne – wie man den Verlag eben kennt – wieder einmal den Vogel ab.
Das Buch, das King nach Firestarter angehen sollte, bekam den Namen Cujo, und es handelte nicht von Gespenstern oder übernatürlichen Machenschaften. Ähnlich wie damals, als er nach Colorado zog, um Shining und Das letzte Gefecht zu schreiben, war er auf der Suche nach Inspiration. Im Herbst 1977 besuchte er zu diesem Zweck England und schrieb dort einen experimentellen Thriller, der bis heute seines gleichen sucht. Und obwohl er in einem Interview sagte, dass er verrückt würde, wenn er ständig über Maine schriebe, siedelte er Cujo in Maine an, in einem Sommer, der äußerst heiß daher kam.
England war jedoch nicht das, was King erwartet hatte. Seine ganze Familie hatte dort keine gute Zeit, und er selbst brachte kein Wort zu Papier. Er fühlte sich ausgebrannt und uninspiriert. Das Haus, in dem sie lebten, war nicht warm zu bekommen, und so brachen sie ihren Aufenthalt, der ein ganzes Jahr dauern sollte, ab und kehrten nach bereits drei Monaten nach Hause zurück. Allerdings hatte King das entscheidende Detail zu Cujo in England erhalten. Dort nämlich las er einen Artikel in der Zeitung, der davon handelte, wie ein Kind in Portland von einem Bernhardiner getötet wurde. King war schon immer ein Meister darin gewesen, die Dinge miteinander zu verknüpfen, und so dachte er an seinen Motorradausflug, den er im Jahr davor unternommen hatte, als sein Motorrad im Nirgendwo plötzlich stehen blieb. Ihm gelang es gerade noch, das Bike zu einem Mechaniker in der Nähe zu bewegen, bevor es endgültig den Geist aufgab. Von der anderen Straßenseite hörte er ein unheimliches Knurren und sah einen riesigen Bernhardiner, der sich gerade bereit machte, ihn anzugreifen. Der Hund gab nur nach, weil der Mechaniker zu ihm hinüberschlenderte und ihm einen Schlag mit dem Steckschlüssel gegen die Hüfte verpasste.
Es gibt sogar unter den gebildeten Leuten (oder gerade dort) die nie versiegenden Stimmen, die raunen, Tolkien habe sich bei seinem epochemachenden Werk vom zweiten Weltkrieg inspirieren lassen; dann kam John Garth und erklärte in seiner Tolkien-Biographie der Welt, es handle sich um den ersten Weltkrieg, den Tolkien da verarbeite. Tolkien selbst waren diese Verweise schon zu Lebzeiten suspekt – und das zu recht. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Analyse eines Literaturwissenschaftlers mehr über den Analytiker aussagt als über das eigentliche Werk. Das ist das eine. Das andere ist die Tatsache, dass man sich in Mainstream-Kreisen den Erfolg eines Fantasy-Werkes irgendwie erklären muss, um sich ihm bedenkenlos widmen zu können.
Das viktorianische Zeitalter umfasste die 63 Jahre von 1837 bis 1901, in denen Königin Victoria über Großbritannien und Irland herrschte. Es war eine Zeit großer Macht und des großen Reichtums für Großbritannien, das sein Reich zu dieser Zeit über den ganzen Globus ausdehnte. Es war auch eine Zeit des raschen Fortschritts in Wissenschaft, Industrie und Kunst sowie vieler politischer und sozialer Reformen. Viele dieser Entwicklungen haben die Welt so geprägt, wie wir sie heute kennen.
Wir schauen uns heute einmal zehn merkwürdige Dinge an, die es in dieser Epoche zu bestaunen gab.
Vignetten
Zwei Beispiele einer Vignette in der viktorianischen Zeit
Wenn wir darüber nachdenken, wie das Leben vor 150 Jahren aussah und welche Unterhaltungsmöglichkeiten die Menschen im viktorianischen Zeitalter hatten, ist die Liste ziemlich kurz. Es gab kein Fernsehen. Das Kino befand sich in einer sehr frühen Entwicklungsphase und war eine kommerzielle Einrichtung. Auch ein Radio gab es nicht. Eine beliebte Form der Unterhaltung war das Verkleiden in Kostüme und das gegenseitige Posieren in sogenannten Vignetten oder Tableaus vivants (lebende Bilder). Das klingt unschuldig, aber stellt euch vor: Könnt ihr euch eure Großmutter vorstellen, wie sie sich als griechische Waldnymphe verkleidet auf einem Tisch im Wohnzimmer räkelt und alle applaudieren? Die Vorstellung ist in der Tat etwas absurd. Für die Viktorianer war das jedoch völlig normal und ein angemessener Zeitvertreib.
Armenhäuser
Clerkenwell Workhouse, 1882
Armenhäuser (auch Arbeitshäuser genannt) waren Einrichtungen, die von der Regierung betrieben wurden und in denen arme, gebrechliche oder psychisch kranke Menschen untergebracht werden konnten. Sie waren in der Regel schmutzig und überfüllt mit Menschen, die in der Gesellschaft nicht erwünscht waren. Zu jener Zeit galt Armut als unehrenhaft, da sie als Mangel an der moralischen Tugend des Fleißes betrachtet wurde. Viele der Menschen, die in den Armenhäusern lebten, mussten arbeiten, um zu den Kosten für ihre Verpflegung beizutragen. Es war nicht ungewöhnlich, dass ganze Familien in der Gemeinschaftsunterkunft zusammenlebten. Das englische Armengesetz von 1601 begründete das Konzept der staatlichen Armenfürsorge und verpflichtete jede Gemeinde, für die Armen in ihrem Gebiet „zu sorgen”. Die Arbeitshäuser beflügelten natürlich die Fantasie der viktorianischen Schriftsteller, die sie als „Papierpaläste” bezeichneten.
Londoner Nebel
Nebel in Westminster, London
In den 1850er Jahren war London die mächtigste und reichste Stadt der Welt. Doch es war auch die am stärksten überfüllte Stadt der Welt, in der Umweltverschmutzung und Armut zu immer größeren Problemen wurden und die Pracht der Stadt zu erdrücken drohten. Lebten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch weniger als eine Million Menschen in London, so konnte sich die Bevölkerung der Hauptstadt bis zu den 1850er Jahren verdoppeln. Ende des 19. Jahrhunderts lebten schließlich 6,5 Millionen Menschen im immer weiter wachsenden Großraum London. Damit lebte nun jeder fünfte Einwohner des Vereinigten Königreichs in London.
Das London der viktorianischen Ära war berühmt für seine „Pea-Soupers“ – Nebel, der so dicht war, dass man kaum hindurchsehen konnte. Verursacht wurde diese „Erbsensuppe” durch eine Kombination aus Nebel von der Themse und Rauch von den Kohlefeuern, die einen wesentlichen Bestandteil des viktorianischen Lebens darstellten. Interessanterweise litt London bereits seit Jahrhunderten unter diesen „Erbsensuppen“: Im Jahr 1306 verbot König Eduard I. die Kohlefeuer aufgrund des Smogs. Im Jahr 1952 starben 12.000 Londoner an den Folgen der Luftverschmutzung. Dies veranlasste die Regierung, den Clean Air Act zu verabschieden, der smogfreie Zonen schuf. Die viktorianische Atmosphäre (in der Literatur und in modernen Filmen) wird durch den dichten Smog natürlich perfekt verstärkt. Diese unheimliche Umgebung ermöglichte dann auch die Taten von Leuten wie Jack the Ripper.
Essen
Essen
Das englische Essen galt selbst zu den besten Zeiten als gruselig, was in der viktorianischen Ära besonders zutraf. Die Viktorianer liebten Innereien und aßen praktisch jeden Teil eines Tieres. Das ist nicht völlig ungewöhnlich, aber die Vorstellung, eine Schüssel mit Hirn und Herz zu essen, ist für den Durchschnittsmenschen nicht gerade verlockend. Nichts wurde vergeudet: Ein Kalbskopf wurde gekocht, das Hirn zu einer Soße verarbeitet und die Ohren rasiert und frittiert. Denn schließlich möchte niemand ein Haar an seinem Kalbsohr finden.
Beliebt war auch das gesäuerte Schweinegesicht: Dafür kocht man einen Schweinekopf in einem Topf mit Kälberfüßen, reibt ihn vor dem Pökeln mit Salz ein und serviert ihn mit Senf. Wenn du deine Gäste wirklich verwöhnen möchtest, löse das Gesicht vom Knochen, bestreiche es mit Gelee und serviere es als Delikatesse – von Angesicht zu Angesicht.
Operationen
Was aussieht wie ein gespielter Witz, war bittere Realität
In einer Zeit, in der jeder vierte Patient nach einer Operation starb, konnte man sich im viktorianischen Zeitalter glücklich schätzen, wenn man einen guten Arzt und einen sauberen Operationssaal hatte. Es gab weder Anästhesie noch Schmerzmittel für die Zeit danach und auch keine elektrischen Geräte, um die Dauer einer Operation zu verkürzen. Die viktorianische Chirurgie war nicht nur unheimlich, sondern auch grauenhaft. Meistens waren die Operationssäle bis unter die Decke mit Hunderten von Zuschauern gefüllt, die den ganzen Schmutz des täglichen Lebens in sich trugen. Dies war keine sterile Umgebung. Manchmal war der OP-Saal so überfüllt, dass er geräumt werden musste, bevor die Chirurgen mit dem Eingriff beginnen konnten. Dabei handelte es sich nicht unbedingt um Medizinstudenten, Chirurgen oder Ärzte. Manchmal waren es Zuschauer, die nur gekommen waren, um den Kampf um Leben und Tod auf der Bühne mitzuerleben.
Schauerromane
Wie könnte die Gothic Novel, ein Literaturgenre, das Elemente des Horrors und der Romantik vereint, auf einer solchen Liste fehlen? Es war die viktorianische Zeit, die uns mit Dracula und Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde zwei der großartigsten Werke des Schreckens bescherte. Auch die Amerikaner trugen dazu bei: Edgar Allan Poe schuf einige der größten Werke der Schauerliteratur seiner Zeit. Die Viktorianer wussten, wie man Menschen erschreckt – und zwar im großen Stil. Diese Werke bilden bis heute die Grundlage für viele moderne Gruselgeschichten, und ihre Faszination hat bis heute nicht nachgelassen.
Jack the Ripper
Im Jahr 1888 terrorisierte Jack the Ripper London. Unter dem Deckmantel des berühmten Londoner Nebels schlachtete der Ripper schließlich mindestens fünf Prostituierte ab, die im East End arbeiteten und als kanonisch gelten. Die Zeitungen, deren Auflage zu dieser Zeit stieg, verliehen dem Mörder aufgrund der Grausamkeit der Angriffe und der Tatsache, dass es der Polizei nicht gelang, ihn zu fassen, einen weit verbreiteten und dauerhaften Ruhm. Da die Identität des Mörders bis heute nicht bestätigt wurde (und dies wahrscheinlich auch nie geschehen wird), konnten sich Legenden um die Morde zu einer Mischung aus echter historischer Forschung, Folklore und Pseudohistorie entwickeln.
Freak Show
Joseph Carey Merrick
Bei einer Freakshow werden Raritäten und „Missgeburten der Natur” ausgestellt, darunter ungewöhnlich große oder kleine Menschen, Menschen mit männlichen und weiblichen sekundären Geschlechtsmerkmalen sowie Menschen mit anderen außergewöhnlichen Krankheiten und Zuständen. Ziel ist es, die Zuschauer zu schockieren. Das wohl berühmteste Mitglied einer Freakshow war der Elefantenmensch. Joseph Carey Merrick (5. August 1862 – 11. April 1890) war ein Engländer, der aufgrund seiner durch eine angeborene Störung bedingten körperlichen Erscheinung als „The Elephant Man” bekannt wurde. Seine linke Körperhälfte war überwuchert und entstellt, sodass er fast sein ganzes Leben lang eine Maske tragen musste. Es besteht kein Zweifel, dass die viktorianischen Freakshows zu den beklemmendsten Aspekten der damaligen Gesellschaft gehörten.
Memento Mori
Ein „Memento Mori“
Die lateinische Redewendung „Memento mori” bedeutet „Vergiss nicht, dass du sterben wirst”. Im viktorianischen Zeitalter war die Kunst der Fotografie noch in den Kinderschuhen und sehr kostspielig. Wenn ein geliebter Mensch starb, konnten die Angehörigen den Leichnam in einer bestimmten Pose fotografieren lassen – oft zusammen mit anderen Familienmitgliedern. Für die große Mehrheit der Viktorianer war dies das einzige Mal, dass sie fotografiert wurden. Bei diesen Post-Mortem-Fotografien wurde der Eindruck des Lebens manchmal dadurch verstärkt, dass man die Augen der Person öffnete oder die Pupillen auf den fotografischen Abzug malte. Bei vielen frühen Bildern wurden zudem die Wangen der Leiche rosig gefärbt. Erwachsene wurden in der Regel auf Stühlen oder in speziell angefertigten Rahmen postiert. Auch Blumen waren ein gängiges Requisit in der Post-Mortem-Fotografie aller Art. Auf dem obigen Foto wird die Tatsache, dass das Mädchen tot ist, dadurch noch deutlicher (und gruseliger), dass die leichte Bewegung der Eltern dazu führt, dass sie aufgrund der langen Belichtungszeit unscharf sind, während das Mädchen totenstill ist und somit scharf abgebildet wird.
Königin Victoria höchstselbst
Die lachende Queen. Eine Rarität.
Königin Victoria steht auf dieser Liste an erster Stelle, weil die Epoche nach ihr benannt ist und sie tatsächlich ziemlich unheimlich war. Als ihr Mann Albert im Jahr 1861 starb, legte sie Trauer an – sie trug bis zu ihrem eigenen Tod viele Jahre später ausschließlich Schwarz – und erwartete dies auch von ihrem Volk. Sie mied öffentliche Auftritte und verließ in den folgenden Jahren nur selten London. Ihre Zurückgezogenheit brachte ihr den Namen „Witwe von Windsor” ein. Ihre düstere Herrschaft warf einen dunklen Schatten auf Großbritannien und ihr Einfluss war so groß, dass die gesamte Zeit vom Unheimlichen geprägt war. Ironischerweise war London nach Victorias Tod in Purpur und Weiß geschmückt, da die Königin schwarze Begräbnisse verabscheute.
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Sehr guter Zusatz. Bereichert das ganze enorm. Danke!