Possenspiele

Schlagwort: Schauerliteratur (Seite 8 von 27)

Diese Rubrik vereint die Analyse und Beschäftigung mit der unheimlichen Literatur als Ganzes. D.h., dass auch „strange story“, „weird fiction“, „pure horror“, „geistergeschichte“ und sogar manche Phasen der „crime fiction“ und der „gothic novel“ hier einfließen.

Der Quinkunx / Walter de la Mare

Walter de la Mares „Der Quinkunx“ ist eine Geistergeschichte, die erstmals im Dezember 1906 in Lady’s Realm veröffentlicht und später für die Sammlung A Beginning and Other Stories (1955) überarbeitet wurde. Die Erzählung folgt einem namenlosen Protagonisten, der von seinem Freund Walter in ein kürzlich geerbtes Haus eingeladen wird, um ihm bei einem Problem zu helfen.

Diese Erbschaft erfolgte nach dem Tod von Walters Tante, deren Präsenz im Haus auf gespenstische Weise spürbar bleibt. Besonders ihr Porträt verhält sich unheimlich: Es dreht sich nachts auf mysteriöse Weise wieder nach vorne, obwohl Walter es explizit umgedreht oder gar entfernt hatte. Diese verstörenden Vorkommnisse deuten auf einen übernatürlichen Versuch hin, die Entdeckung eines verborgenen Geheimnisses zu verhindern. Walter bittet nun den Erzähler, im Zimmer mit dem Bild Wache zu halten, um das Rätsel zu lösen.

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Die Bestie mit den fünf Fingern / W. F. Harvey

Wir gehen heute etwas in der Zeit zurück, um uns einen Klassiker aus dem Hause Diogenes anzuschauen. Ein Verlag mit einem überhaupt interessanten Profil, dessen Credo besagt: „Jede Art des Schreibens ist erlaubt, nur nicht die langweilige“. Zugegeben, das Buch, um das es heute geht, besser gesagt, die Sammlung von Geschichten, ist dort schon lange nicht mehr zu finden. Sie wurde 1979 veröffentlicht und so weit ich weiß, niemals nachgedruckt, aber antiquarisch ist das Taschenbuch nicht schwer zu finden: „Die Bestie mit den fünf Fingern“.

William Fryer Harvey wurde in das faszinierende Zeitalter der Psychoanalyse hineingeboren. Als Arzt sind ihm die Unternehmungen Freuds um 1900 natürlich nicht entgangen. Die Surrealisten zogen ihren eigenen Spuk daraus, andere lehnten die Psychoanalyse rigoros ab. In der Kunstwelt fand Freud – wenig erstaunlich – den größten Anklang, aber Harvey ist einer jener Schriftsteller, die aus der Psychoanalyse Gespenstergeschichten ableiteten.

Harvey
Harvey

Es gibt neun Sammlungen von ihm, aber wir haben hierzulande leider nur eine bekommen: “Die Bestie mit den fünf Fingern“, die jedem nur ans Herz gelegt werden kann. Die Sammlung enthält neben der berühmten Titelgeschichte auch die anderen Meisterwerke wie “Augusthitze” und “Der Begleiter”.

Hier haben wir also die eine Sammlung psychologischer Gespenstergeschichten von W. F. Harvey vorliegen, die alle etwas anders sind als die bekannten Variationen. Zwar könnte man behaupten, eine Gespenstergeschichte sei immer auch psychologisch in ihrer Aussage und läge damit nicht falsch, aber uns interessiert hier die Frage nach der Einbildung. Wenn wir davon überzeugt sind, dass es in einer Geschichte um das Übernatürliche geht, nehmen wir als Leser eine andere Haltung ein, als wenn wir berechtigte Zweifel haben, die sich aber nie aufdecken lassen, weil der Autor uns in ein Grenzland schickt: Zufall? Einbildung? Grauen? Alles zusammen?

Es mag etwas überraschen, einen so sträflich vergessenen Autor wie William Fryer Harvey gleich neben einige der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts zu stellen, denn kaum je hört man selbst aus Kreisen, die sich vermeintlich etwas mit der phantastischen Literatur auseinandersetzen, auch nur eine Silbe über ihn. 1955 lobte ihn die Times und betrachtete ihn als gleichwertig mit MR James und Walter De La Mare. Es ist nicht so, dass man immer etwas auf solche Aussagen geben müsste, aber man hätte erwarten können, dass sich das interessierte Publikum zumindest selbst davon überzeugt. Aber das geschah nicht, und so finden sich bis heute kaum nennenswerte Spuren von ihm. Obwohl Harvey dafür gefeiert wurde, im ersten Weltkrieg sein Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, als er einen im lecken und vollgelaufenen Maschinenraum eines Zerstörers eingeklemmten Maat operierte, obgleich die Gefahr bestand, dass der Zerstörer auseinander brach – wofür er die Tapferkeitsmedaille bekam -, bleibt er doch eher für seine Geistergeschichten in Erinnerung, die zu den besten gehören, die je geschrieben wurden. Viele literarische Riesen haben sich diesem Genre verbunden gefühlt, und deshalb ist es umso bemerkenswerter, wenn man gerade in diesem Feld ein Zeichen zu setzen vermag; aber Harveys Stil fühlt sich an wie ein dunkles Schattenbild der Geschichten Sakis (Hector Hugh Munro) und verdienen es, gefeiert zu werden.

Nachdem Harvey im Krieg Lungenschäden erlitten hatte, blieb sein Zustand stets bedenklich während seines kurzen Lebens (er starb mit 52 Jahren), aber er begann, Kurzgeschichten zu schreiben, die das Irrationale und Unterbewusste mit kraftvoller Wirkung zur Geltung brachten. Obwohl sein Output relativ klein war, profitierten seine Geschichten von ihren modernen psychologischen Erkenntnissen und dem Mangel an einfachen Schlussfolgerungen.

“Die Bestie mit den fünf Fingern” wurde 1928 veröffentlicht, und fast zwei Jahrzehnte später wurde die Geschichte unter der Leitung von Robert Florey verfilmt.

“Die Hand krümmte sich in Todeszuckungen; wie ein Regenwurm an einem Angelhaken wand sie sich hin und her, vom Nagel auf dem Brett festgehalten”,

schrieb er in dieser Geschichte, in der Eustace Borlover entdeckt, dass die rechte Hand seines blinden Onkels Adrian begonnen hat, von selbst und ohne das Wissen des Trägers zu schreiben. Nach dem Tod seines Onkels erhält Eustace die abgetrennte Hand mit der Post zugeschickt. Nach Angaben des Anwalts wurde in Adrians Testament ein neuer Zusatz gefunden, der darum bat, ihm die Hand abzutrennen und als Teil seines Erbes Eustace zu schicken. Es zeigt sich bald, dass die Hand ein Eigenleben besitzt, intelligent, sehr beweglich und ein Meisterfälscher ist. Eustace und sein Sekretär gehen sofort davon aus, dass die Hand böse ist, aber um ehrlich zu sein, scheint sie eher schelmisch als bösartig zu sein. Bis Eustace die Hand auf ein Brett nagelt und es für mehrere Monate in einen Safe steckt. Denn aufgrund dieses Vorkommnisses schwört die Hand Rache.

Der Film lässt aus dem blinden Onkel einen Pianisten werden, dessen abgetrennte Hand aus seinem Mausoleum zurückkehrt, um sich mit rachsüchtigen Attacken gegen den Sekretär zu wenden, der sich heimlich nach dem Vermögen des Toten sehnt. Der Film war ein großer Erfolg, auch wegen seiner exemplarischen Spezialeffekte. Luis Buñuel soll an ihrem Design beteiligt gewesen sein, und der surreale Anblick der Hand, die ein Klavier hinaufhüpft, deutet darauf hin, dass dies wirklich so war. Der Film rühmte sich auch der Musik von Max Steiner und bewahrt viel von seiner seltsamen, eindringlichen Kraft. Das führte zu einem erneuten Interesse an Harveys Werk, und es folgten einige Nachdrucke seiner Geschichten. Dieses kurze Auflodern war aber aus unverständlichen Gründen nicht bleibend.

Mit seiner Frau lebte er eine Zeitlang in der Schweiz, aber die Sehnsucht nach seiner Heimat führte zu seiner Rückkehr nach Weybridge in England. 1935 zog er nach Letchworth, wo er am 4. Juni 1937 auch starb. Nach einer Trauerfeier im örtlichen Friends Meeting House wurde Harvey auf dem Kirchhof von St Mary the Virgin in Old Letchworth begraben.

Die Frage, ob das, was Harvey vorlegt (bis auf wenige Ausnahmen) wirklich Gespenstergeschichten sind, drängt sich auf, und sie kann nur dann verneint werden, wenn man die Psychoanalyse von sämtlichem Spuk ausnimmt. Das Ungewöhnliche, Unheimliche und Seltsame spielt sich oft genug in unserem Kopf ab, oder wird von ihm gar erst ausgelöst. Und so ist es dann doch nicht verwunderlich, dass man Harvey als einen Meister der psychologischen Geistergeschichte interpretiert, in der das Übernatürlich nur verhalten, wenn überhaupt, auftaucht. Das Gefühl des Unheimlichen – wie Freud es formulierte – ist hier exemplarisch ausgeführt. Möglicherweise ist die Wirkungskraft dieser Geschichten dann auch der hohen Wahrscheinlichkeit geschuldet. Es könnte so gewesen sein.

Träume im Hexenhaus / H. P. Lovecraft

Das Buch der Geister und Spukhäuser
Natürlich gibt es die Erzählung in unfassbar vielen Auflagen, aber da ich gegenwärtig dabei bin, einige (aber längst nicht alle) Geschichten aus dem „Buch der Geister & Spukhäuser“, herausgegeben von Frank Festa, zu analysieren, war es an der Zeit, über sie an dieser Stelle zu sprechen.

Walter Gilman, Student der Mathematik und Volkskunde an der Miskatonic University, zieht in ein Dachzimmer des berüchtigten „Hexenhauses“ in Arkham, das als verflucht gilt. Die düstere Geschichte des Hauses wird schon bald offenbar: Es gehörte einst Keziah Mason, einer Hexe, die 1692 aus einem Gefängnis in Salem auf mysteriöse Weise verschwand. Gilman findet heraus, dass zahlreiche Bewohner des Hauses in den letzten zwei Jahrhunderten frühzeitig und unter bizarren Umständen gestorben sind. Besonders auffällig sind die ungewöhnlichen Dimensionen seines Zimmers, das einer unheimlichen, nicht-euklidischen Geometrie zu folgen scheint. Er entwickelt die Theorie, dass diese Struktur Reisen zwischen verschiedenen Dimensionen oder Ebenen des Universums ermöglicht.

Moderne wissenschaftliche Forschungen, insbesondere in den Bereichen Quantenmechanik und Topologie, zeigen erstaunliche Parallelen zu Gilmans Erkenntnissen. Arbeiten über Wurmlöcher, extradimensionale Räume und Multiversum-Theorien bestätigen die damalige fiktive Prämisse auf neue Weise.

Kurz nach seinem Einzug erlebt Gilman verstörende Träume. Er schwebt körperlos durch einen jenseitigen Raum voller unbeschreiblicher Farben, Klänge und fremdartiger Geometrien. In diesen Traumlandschaften begegnet er Wesen, die er instinktiv als intelligente Entitäten wahrnimmt. Dazu gehören schillernde, wuchernde, kugelförmige Blasen und eine sich ständig verändernde polyedrische Figur. Diese Erscheinungen agieren nicht nur eigenständig, sondern verfügen auch über ein verstörendes Bewusstsein.

Noch bedrohlicher sind jedoch seine nächtlichen Begegnungen mit Keziah Mason und ihrem teuflischen Vertrauten Brown Jenkin – einer rattenartigen Kreatur mit einem erschreckend menschlichen Gesicht. Brown Jenkin ist ein groteskes Wesen, das in der Folklore des Hauses immer wieder erwähnt wird. Er ist Keziahs Bote und Vollstrecker ihrer unheiligen Rituale. Er gleitet durch Wände und sucht Opfer auf grausame Weise heim. Gilman beginnt zu zweifeln, ob diese Begegnungen bloße Träume sind oder ob er tatsächlich zwischen den Welten wandelt.

Seine Erlebnisse spitzen sich zu und werden beunruhigend: Er wird in eine bizarre, fremdartige Stadt entführt entführt und bringt eine kleine Statue mit – ein Artefakt aus einem unbekannten Material mit einer seltsamen Legierung, das irdischen Wissenschaftlern Rätsel aufgibt. Die Lage eskaliert, als Gilman im Schlaf im schwarzen Buch des Azathoth unterzeichnet – unter dem Einfluss von Keziah, Brown Jenkin und dem unheilvollen „Schwarzen Mann“, einer Manifestation des niederträchtigen Nyarlathotep. Schließlich wird er in einen entsetzlichen Ritus verwickelt: Er findet sich in einem jenseitigen Raum wieder, wo er gezwungen wird, Azathoth am „Zentrum des Chaos“ zu huldigen und an der Entführung eines Säuglings teilzunehmen. Als er erwacht, entdeckt er Schlamm an seinen Füßen – und eine Zeitungsmeldung bestätigt tatsächlich die Entführung eines Kindes in der vergangenen Nacht.

In der Walpurgisnacht erreicht das Grauen seinen Höhepunkt: Gilman hat einen Alptraum, in dem Keziah und Brown Jenkin das entführte Kind in einem satanischen Ritual opfern wollen. In einem verzweifelten Akt stranguliert er Keziah, doch Brown Jenkin vollendet das Ritual, indem er dem Kind das Handgelenk durchbeißt und dann in einem dreieckigen Abgrund verschwindet. Als Gilman erwacht, vernimmt er ein lautes Geräusch, das ihn fast taub macht.

Er erzählt seinem Mitbewohner Frank Elwood von seinen Erlebnissen, doch in der Nacht wird Elwood Zeuge des ultimativen Horrors: Brown Jenkin frisst sich aus Gilmans Brust heraus. Kurz darauf wird das Haus verlassen und ein Sturm reißt das Dach ein. Jahre später machen Arbeiter bei dem Abriss des Gebäudes verstörende Funde: Keziahs Skelett, zerfallene Bücher der schwarzen Magie, eine Schale aus einem unbekannten Metall sowie Kinderknochen und ein rituelles Opfermesser. Besonders beunruhigend ist die Entdeckung einer deformierten Rattengestalt mit menschenähnlichen anatomischen Merkmalen – das Skelett von Brown Jenkin. Diese Funde werden im Museum der Miskatonic University ausgestellt und stellen die Wissenschaft bis heute vor Rätsel.

Lovecraft ließ sich bei der Geschichte ganz offensichtlich von Willem de Sitters Vortrag zur Größe des Universums inspirieren, den er drei Monate zuvor besucht hatte. De Sitter wird in der Geschichte direkt erwähnt und als mathematisches Genie bezeichnet. Die Erzählung greift Konzepte auf, die auch in Arbeiten von Albert Einstein und Arthur Eddington behandelt wurden – insbesondere die Nutzung höherdimensionaler Räume als Abkürzungen durch den normalen Raum. Das erinnert an Lovecrafts frühere Geschichte „Die Falle“ und zeigt eindeutig sein wachsendes Interesse an der Verbindung von Kosmologie und Horror. Auch Anleihen an Nathaniel Hawthornes unvollendetem Roman „Das Lebenselixier“ sind unverkennbar. (Dieses Fragment wurde später in den „Marmorfaun“ eingearbeitet).

Die Rezeption der Geschichte war gemischt. Zeitgenössische Kritiker empfanden die Handlung als entweder zu vage oder zu explizit. August Derleth bezeichnete sie als „schlecht“ und entmutigte Lovecraft so sehr, dass dieser sie nicht zur Veröffentlichung einreichen wollte. Doch ohne Lovecrafts Wissen tat Derleth es dennoch – und mit Erfolg. „Weird Tales“ veröffentlichte sie. Lovecraft lehnte sogar eine Radioumsetzung ab, da er befürchtete, die öffentliche Wahrnehmung (die über den platten Horror nicht hinaus kam) würde die Geschichte ins Lächerliche ziehen.

Spätere Kritiker bekräftigten Derleths Urteil. Lin Carter bezeichnete die Erzählung als „uninspiriert“, Steven J. Mariconda sprach von einem „großartigen Scheitern“, und S. T. Joshi nannte sie „eine der schwächsten späten Arbeiten Lovecrafts“. Viele monierten eine unzureichend durchdachte Handlung, die lediglich eine lose Abfolge bizarrer Bilder biete.

Neuere Bewertungen fallen eindeutig positiv aus, denn tatsächlich wird Lovecrafts kosmischer Horror hier so rein wie nie zuvor dargestellt. Michel Houellebecq zählt Träume im Hexenhaus ebenfalls zu den „großen Texten“ Lovecrafts und ordnet sie in den „definitiven vierten Kreis“ seines Werkes ein. Die Geschichte ist ein herausragendes Beispiel für Lovecrafts Ambition, Horror mit modernen wissenschaftlichen Theorien zu verbinden.

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