Possenspiele

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Stephen King Re-Read: Drei

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Während das erste Buch als Vorbereitung auf das, was folgen sollte, gelesen werden kann, beginnt Roland in “Drei” seine Reisegefährten zusammenzusuchen, quasi sein zweites Ka-tet (zum ersten werden wir in Band 4 alles erfahren). Das tut er nicht ganz aus freien Stücken, denn das allmächtige Ka, diese seltsame Schicksalsmacht, hat einen erheblichen Anteil daran. Ka schließt Zufälle zwar nicht aus, aber das eine vom anderen zu trennen ist fast unmöglich. Die Verbindung zwischen unserer und anderen Welten wird zwar schon in “Schwarz” angedeutet, beginnt aber erst hier wirklich imposant zu werden (und bekommt in Band 4 seinen endgültigen philosophischen Unterbau).

War ich mit dem deutschen Titel des ersten Bandes nicht einverstanden, geht für mich der hier gewählte in Ordnung. Im Original heißt das Buch “The Drawing of the Three”, wörtlich übersetzt also: Das Ziehen der Drei, und das ist kein schöner Titel. Doch das dürfte eher Zufall sein, denn bereits der nächste Band “tot.” ist so idiotisch überschrieben wie eh und je.

„Drei“ nimmt die Handlung dort auf, wo „Schwarz“ beendet wurde. Roland von Gilead hatte den Mann in Schwarz durch die Wüste gejagt, bis es zu einem Palaver zwischen den beiden kommt, wo Tarotkarten gezogen werden. es ist zu diesem Zeitpunkt keineswegs klar, was sie zu bedeuten haben, denn entweder hat der Mann in Schwarz Roland bestimmte Ziele klar gemacht oder sie überhaupt erst in Bewegung gesetzt. Was sie also bedeuten, wird in „Drei“ allerdings klar werden. Roland schlief 10 Jahre lang nach dem denkwürdigen Treffen und der Mann in Schwarz entkam.

War der erste Band noch eine Odyssee durch ein dystopisches und sterbendes Land und gleichermaßen eine Hommage an Sergio Leone und Tolkien in drei Akten, kommen jetzt die Portale in Form von Türen ins Spiel. Solche Portale, die unsere Welt mit einer anderen verbinden, werden in der Literatur nicht selten thematisiert, ob nun C. S. Lewis das Portal nach Narnia öffnet oder Philip Pullman in seinem „Goldenen Kompass“ Türen in jede x-Beliebige Welt bereit hält. Selbst der Kaninchenbau bei Alice ist so ein Portal. Es funktioniert nicht selten nach dem Muster: Was wir denken können, das gibt es auch. Bei King hat ein Portal allerdings keinen märchenhaften Charakter.

Dass alle Welten miteinander in Verbindung stehen, ist ein höchst philosophischer Gedanke, der weniger mit Träumen zu tun hat. Obwohl der Begriff des Multiversums erst 1963 im Kontext auf Michael Moorcocks “Eternal Champion” zum ersten Mal Anwendung fand, gab es bereits im altgriechischen Atomismus entsprechende Denkkonzepte, die die Wirklichkeit betrafen.

Zunächst wird Roland von einem riesigen Hummer angegriffen und verliert zwei Finger seiner rechten Hand. Daraufhin wandert er im Fieber an diesem Strand entlang, der ihn mit drei Türen konfrontiert, von denen jede nach New York City führt, allerdings zu verschiedenen Zeiten.

Stephen King strukturiert seine drei Türen als jeweils eigenen Teil des Romans, der sich auf jede der Figuren konzentriert, der wir jenseits dieser Türen begegnen. Zu behaupten, er habe seinen Erzählmotor angeworfen, wie man das ab und zu lesen kann, steht in keinem Verhältnis zu der übersprudelnden Fabulierlust, der wir in diesem Buch beiwohnen. King feuert – wie man so schön sagt – aus allen ihm zu Verfügung stehenden Rohren. Und der Mann hat schlicht die größte Menge davon.

Im ersten und längsten Abschnitt des Buches trifft Roland zunächst auf Eddie Dean, einem Drogensüchtigen, dem Roland das Leben rettet, als er ihn aus seiner Situation als Drogenschmuggler heraus holt. Die zweite Tür führt zu Odetta Holmes, einer im Rollstuhl sitzenden schwarzen Bürgerrechtlerin mit multipler Persönlichkeitsstörung; die dritte Tür schließlich ist ein reines Ablenkungsmanöver. Sie führt zu Jack Mort und nicht zu einem Mitglied des künftigen Teams. Er war der Mann, der Odetta vor einen Zug warf, woraufhin sie ihre Beine verlor, und eine jener üblen Persönlichkeiten, dessen Handlungen weitreichende Auswirkungen auf die ganze Reihe haben – und AUSWIRKUNGEN ist genau das, worum es in diesem zweiten Band hauptsächlich geht.

Betrachtet man „Schwarz“ als den bizarren Prolog durch eine vage und verschwommene Geschichte, werden die Dinge hier konkret und nehmen ihre unverrückbare Form an. Das ist nicht nur durch den Inhalt gegeben, sondern auch durch Kings Tonalität. „Schwarz“ war eines von Kings weniger erfolgreichen Büchern, weil niemand wusste, dass King noch mehr vorhatte. Und auch King wusste es nicht immer. Wer allerdings den ersten band nicht gelesen hat, wird mit dem Verlust von Rolands Fingern nicht viel anfangen können, wer die späteren Bücher nicht liest, wird Morts Geschichte nicht vollumfänglich verstehen. Und wer nicht weiß, wer Jake ist, wird aus seiner Erwähnung in diesem Band ebensowenig schlau.

Tatsächlich ist das Zielpublikum des Dunklen Turms der sogenannte „Dauerleser“, wie Kings Stammleser genannt werden.

Es geht stehts um die Fäden und wie sie verknüpft werden – und das betrifft nicht nur die Saga, die im Zentrum von Kings Schaffen steht – sondern sein Werk an sich. Linien und Themen tauchen immer wieder auf, werden ein- und ausgeblendet, und für sich allein genommen bedeuten sie vielleicht nicht viel. Aber als Teil des Ganzen sind sie etwas Besonderes.

Das ist der Grund, warum die Serie so beliebt ist; wenn man sie als King-Kenner liest, hat man das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein. Das ist gut zu beobachten, wenn man die Rezensionen jener liest, die sich mit King nie groß beschäftigt haben.

Jake Chambers stößt übrigens erst im nächsten Teil zur Gruppe. Es ist natürlich der gleich Jake, der nach seinem ersten Tod in New York nach Mittwelt kam und dort in einen Abgrund stürzte. Die Verbindung zwischen Jake und dem Revolvermann ist von Anfang an komplex, wobei “Drei” in dieser Beziehung nur eine kurze Zwischenstation markiert. Wie sehr das Lebend es Revolvermannes mit dem von Jake Chambers zusammenhängt, erfahren wir im nächsten Band.

Blutige Nachrichten / Stephen King

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Es kam in den letzten Jahren immer wieder vor, dass vor allem jene Fans, die Stephen King wegen seiner Horror-Element lieben, enttäuscht waren von dem, was er ihnen zu bieten hatte; nicht weniger als eine Perfektion seiner Prosa und eine meisterliche Beherrschtheit seiner Themen, die sich hauptsächlich um Sterblichkeit und Freundschaft drehen (während ein noch größeres Thema die Opferbereitschaft war und ist). Obwohl King schon immer ein außergewöhnlicher Autor war, legt er mittlerweile eine Perfektion an den Tag, die aus schierer Erfahrung resultiert. Stephen King beherrscht als Schriftsteller alles. Seine Romane können ausufern und mäandern, sie können kontrolliert sein, erschreckend, phantastisch, ungehobelt und fein gesponnen. Und wenige Romanciers beherrschen zudem noch die kurze Form, oder die Novelle. Nimmt man es genau, ist in „Blutige Nachrichten“ vom titelgebenden Kurzroman über die längere Erzählung bis zur Kurzgeschichte alles vertreten, und es ist nach Frühling, Sommer, Herbst und Tod und Four Past Midnight die dritte Sammlung, in der vier Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind.

Warum also sollten viele Fans davon enttäuscht sein? Weil sie oft genug vergessen, dass Kings Werk vermuten lässt, dass Freundlichkeit oder eine kurze Phase der Zufriedenheit an den schrecklichsten Orten zu finden ist. Viele seiner Erzählungen, gerade der älteren, sind schwarz bis auf die Knochen, oft gab es dort keine Illusion der Hoffnung, aber meistens interessiert sich King dann doch für die Warmherzigkeit und das Mitgefühl, die der Dunkelheit am Rande der Grauzone trotzen. Sein Werk hat einen sowohl warmen Charakter als auch eine beruhigende Vertrautheit, die das Grauen im Innern mildert. Und das hat sich über die Jahre nicht unbedingt verstärkt, aber noch präziser herauskristallisiert.

Jede der in „Blutige Nachrichten“ versammelten Geschichten ist für King-Leser eine Rückkehr auf bekanntes Gebiet, aber zum größten Teil sind sie mit einem solchen Charme geschrieben, dass das Altbekannte in seiner Aufrichtigkeit erfrischend wirkt. Und in der Tat ist Aufrichtigkeit ein Schlüsselelement dieser Geschichten.

Blutige Nachrichten

Die Titelgeschichte, in der Holly Gibney, die Privatdetektivin, die sich in der Bill-Hodges-Trilogie und in The Outsider vom einer Handlangerin zur Heldin entwickelt hat, erneut auftritt, ist die längste Geschichte der Sammlung.

Das erste Soloabenteuer von Holly wurde aus verschiedenen Gründen mit Spannung erwartet. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Fortsetzung von The Outsider, die geschilderten Ereignisse knüpfen jedoch direkt daran an. Hollys Detektei Finders Keepers konzentriert sich gewöhnlich auf entlaufene Hunde und Kautionsflüchtlinge, und das ist für Holly genau das richtige Umfeld, denn sie ist alles andere als eine Action-Heldin. Ihre Schrullen sind es, die sie zu einer so brillanten Figur machen, sensibel gezeichnet und realistisch durchdacht. Wie ihre Diagnose genau lautet, wissen wir nicht, nur so viel, dass sie höchst ängstlich ist. Mehr müssen wir aber auch nicht wissen, denn tatsächlich laufen die meisten Menschen, die an einer psychischen Grunderkrankung leiden, jahrelang undiagnostiziert durchs Leben, und wenn, sind die Diagnosen meistens falsch.

Häufig gehen die Neurosen oder Kämpfe der Menschen auf Ereignisse in ihrer Kindheit und auf die Beziehungen zu ihren Eltern zurück. King zeigt, dass er wie kein anderer weiß, was seine Aufgabe als Schriftsteller ist. Wir erhalten Einblicke in Hollys frühere Welt und erfahren mehr über die Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter, die ein Haupteinfluss für Hollys Problematiken ist. Die Figurenzeichnung ist präzise und emotional, und das ist ein Hauptmerkmal der ganzen Erzählung, die in der Tat kein Feuerwerk ist, sondern eher eine Vitrine, in der man einem Großmeister bei seiner Arbeit zusehen kann.

King beherrscht Komplexität gekonnt. Holly mag als eine verletzliche Figur erscheinen, als wäre sie aus Glas, aber die Tapferkeit und der Mut, den er ihr zugesteht, sind das, was die Dinge wirklich antreiben. Man will ihr die Hand reichen und sie beschützen, sie abschirmen; aber King schreit den Leser an: „Wagen Sie es nicht, sie ist die Heldin und beschützt Sie vor den Monstern“. Herauszufinden, ob es ihr gelingt, ist die ganze Freude bei der Lektüre dieser Geschichte.

Mr. Harrigans Telefon

„Mr. Harrigans Telefon“ verdankt den EC-Comics und den Twilight-Zone-Episoden, die der Autor immer wieder als seine frühen Inspirationen bezeichnet hat, offensichtlich sehr viel. Und wieder zeigt King, dass er auch Figuren in der ersten Person brillant zeichnen kann. Manchmal ist es so, als würde man einer Autobiographie folgen, so gut kennt er seine Charaktere, die man – und das wiederhole ich immer wieder – nirgendwo authentischer finden wird. Es ist nicht die einzige Geschichte mit einem gewissen Maß an Nostalgie (die nächste ist es nicht weniger), wenn der Meta-Kommentar darin enthalten ist, wie schnell sich die Dinge innerhalb von 15 Jahren verändert und entwickelt haben.

Die Hauptfigur, Craig, erzählt die Geschichte als Erwachsener. Die Wahl, die Geschichte in der jüngsten Vergangenheit anzusiedeln, zeigt, wie ernst King jeden Teil seines Handwerks nimmt. Wir denken, dass wir uns an ein, zwei Jahrzehnte spielend erinnern können, aber wenn es darum geht, die Tatsachen zu überprüfen, würden wir uns wahrscheinlich schwer tun. King bleibt relevant, weil er ein geschärftes Auge auf die Dinge wirft; diese Erzählung zeigt, dass er nicht so sehr ein Satiriker ist (für ihn steht die Geschichte immer an erster Stelle), sondern ein Mensch, der genug Veränderungen erlebt hat, um uns davon zu erzählen. Die Geschichte spielt in den frühen Jahren der mobilen Technik, hat aber eine so zeitlose Stimme, dass das mobile Telefon bereits ein unheimliches, anachronistisches Objekt zu sein scheint, noch bevor der überkandidelte Blödsinn, den wir heute haben, einsetzt.

Chucks Leben

Wenn „Mr. Harrigans Telefon“ an Kings frühe Romanen erinnert, dann ist „Chucks Leben“ eine angemessene Darstellung seiner späteren literarischen Experimente. Die Geschichte wird in drei verschiedenen Teilen erzählt, von denen jeder in einem anderen Genre angesiedelt ist, durch die King den Leser auf eine umgekehrte Tour durch Momente in Chucks Leben von der Schwelle zur Sterblichkeit zurück in seine Kindheit führt. Der erste Teil ist ein apokalyptischer Alptraum, der durch einen netten metaphysischen Trick mit Chucks bevorstehendem Tod verbunden ist, während der letzte Teil einen Blick auf seine Kindheit in einem einzigartigen Spukhaus wirft. Aber es ist der Mittelteil, der am hellsten strahlt, als ein Stück emotional getriebener, nostalgischer Charakterarbeit, die Art von Schreiben, die King am häufigsten dann gelingt, wenn er gerade außerhalb des Horror-Genres arbeitet.

Hier begegnen wir Chuck im frühen mittleren Alter, als sich sein Weg mit einer einsamen jungen Frau und einem Straßenmusiker kreuzt. Ihre kurze Begegnung ist nicht lebensverändernd oder gar besonders bedeutsam, aber es ist die Vergänglichkeit des Augenblicks, die der Vignette eine solche Schärfe verleiht. Die Regeln von Chucks Welt sind vorübergehend außer Kraft gesetzt, und die Geschichte bietet einen vorbehaltlos positiven Moment des menschlichen Engagements. King ist in der Lage, aus so kleinen Begebenheiten Freude zu zaubern, dass sich der Leser fragt, wie der Trick zustande kam.

Ratte

Und wenn das Schreiben eine Art Magie oder seltsame Alchemie ist, dann erforscht die letzte Geschichte in Kings Sammlung sowohl die hellen als auch die dunklen Hälften dieser Verzauberung. Die titelgebende Ratte sieht die Version des treuen (und wiederkehrenden) fiktiven Stellvertreter des Autors in einer Hütte im Wald für kurze Zeit sein Domizil errichten. Drew ist dort, um einen Roman zu schreiben, etwas, das ein erhebliches Risiko birgt, da frühere Versuche ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben. Während anfangs alles gut läuft, ziehen bald (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) Gewitterwolken auf. Ein unkluger Handschlag und die Anwesenheit einer seltsam gesprächigen Ratte verwandeln die Geschichte von der Angst eines Schriftstellers in ein faustisches Schnäppchen.

„Ratte“ ist Kings bester Versuch, den Druck und die Klaustrophobie des Schreibprozesses seit Misery (Sie) zu vermitteln. Wir spüren Drews Aufregung über das leere Blatt und die endlosen Möglichkeiten, die es bietet. Es ist eine Aufforderung zu den (kreativen) Waffen. Die ersten 30 Seiten lassen vielleicht Sehnsucht nach einer eigenen Hütte im Wald aufkommen, um frei von den Verpflichtungen eines normalen Lebens zu sein. King schreibt mit absoluter Klarheit über die schriftstellerische Frustration und vergleicht sie in einem denkwürdigen Bild mit Drews Sohn Brandon, der fast an einer Tomate erstickt: „So ähnlich ist es bei mir“, sagte er. „Nur dass es bei mir im Hirn steckt statt im Hals. Ich ersticke zwar nicht richtig, aber ich bekomme nicht genügend Luft. Deshalb muss ich das Ganze zu Ende bringen.“

Als Drew anfängt, „seine Worte zu verlieren“, und seine Möglichkeiten sowohl kreativ als auch in Bezug auf das Überleben eingeschränkt werden, verwandelt sich „Ratte“ in eine poetische Geschichte von Wahnsinn, Isolation und Besessenheit. Jeder, der jemals all seine Bemühungen in ein persönliches, kreatives Projekt gesteckt hat, wird Drews Perspektivenverlust erkennen, sobald der Roman damit beginnt, allumfassend zu werden.

Die Enwor-Saga von Wolfgang Hohlbein

In den 80er Jahren haben einige sehr interessante Werke der Fantasy ihren Ursprung. Stephen King begann sein gewaltiges Epos Der dunkle Turm, Stephen R. Donaldson legte seinen Thomas Covenant vor. Und es gab noch andere, die heute zur Grundlage dieses Genres zählen, alles in allem aber war es ein Tasten im Dunkeln. Die meisten Autoren zeigten sich von Tolkien inspiriert, der wie ein Magnet alle Ideen an sich zu reißen schien. Deutsche Autoren waren ohnehin nicht auf dieser Landkarte verzeichnet. Einer von ihnen machte aber gleich in seiner Anfangsphase dann doch von sich reden: Wolfgang Hohlbein. Und scheinbar brauchte der Mann keine Anlaufzeit, denn mit dem ersten Buch seiner Enwor-Saga brach er nicht nur mit der Tradition Tolkiens, sondern demonstrierte auch gleich jene ungeheure Fabulierlust, die ihm nicht nur Lob einbrachte. Was wenige wissen: unbeobachtet von der internationalen Entwicklung war er einer der ersten, die mit Enwor einen Erzählton einführten, der heute als Grimdark Fantasy in aller Munde ist und von Meistern wie Steven Erikson, George R. R. Martin, Scott Lynch oder Joe Abercrombie zu voller Blüte gebracht wurde. Heute gilt es als selbstverständlich, Glen Cook und seine „Black Company“ – Romane als Vorläufer des Genres zu betrachten, die ebenfalls in den 80ern ihren Ursprung haben, aber Wolfgang Hohlbein war ein ganzes Jahr früher dran. Und das ist noch nicht alles: Enwor ist sogar besser. Das zeigt vor allem eins: die schlechte Anbindung deutschsprachiger Literatur an die internationale – und vornehmlich die englischsprachige phantastische Literatur – zu jener Zeit. Wolfgang Hohlbein hat, bescheiden wie er ist, auch niemals darauf hingewiesen. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal. 


Wenn es zum Thema Hohlbein kommt, wird man meistens auf eine geteilte Meinung treffen. Einerseits schreibt der Mann am Fließband und bedient so viele unterschiedliche Genres, dass man bereits von Massenfabrikware sprechen kann. Andererseits sind die Qualitätsschwankungen eben so gewaltig, dass sich von regelrechtem Abraum bis zum phantastischen Feuerwerk nahezu alles in seinem Werk wiederfindet. Hohlbein hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er zur reinen Unterhaltung schreibt. Wenn wir ehrlich sind, tut das jeder gute Schriftsteller, auch wenn einige das gar nicht gerne hören.

Hohlbein ist heute so erfolgreich, dass er hin und wieder – wenn ein Jubiläum oder grundsätzlich eine Neuauflage auf dem Programm steht – Hand an seine Klassiker legt, um entweder Fehler und Ungereimtheiten auszumerzen und sprachliche Patzer zu glätten. Das war der Fall bei seiner Hexer-Reihe, die ja im Groschenroman-Milieu entstand und zu seinen erfolgreichsten Outputs zählt, und ich bin mir sicher, das hat auch bei der vorliegenden Neuauflage der Saga bei Blanvalet stattgefunden. Vorwort oder Einführung gibt es nicht (anders wie beim „Hexer“).  Außerdem hat man wieder einmal die Gelegenheit verpasst, die vier zur Saga gehörenden Kurzgeschichten mitzuliefern, so dass auch diese Ausgabe am Ende nicht komplett sein wird. So bleibt dem Komplettlisten nichts anderes übrig, als nach „Das Vermächtnis der Feuervögel“ (Piper) zu suchen, um die allererste Geschichte „Malicia“ zu ergattern. „Vela, die Hexe“, „Der Tag vor Harmageddon“ und „Der Tempel der Unsterblichkeit“ finden sich in „Von Hexen und Drachen“ (Bastei-Lübbe).

Bei dieser Neuausgabe aus dem Hause Blanvalet gibt es aber zur Abwechslung auch mal etwas Positives zu vermelden: wir bekommen eine farbige Gesamtsicht Enwors geliefert, und das ist in der heutigen Zeit ja nun auch nicht mehr Standard.

Lovecraft statt Tolkien

Jetzt sind wir schon beim Hauptpunkt angelangt: Ist der Hexer ganz offensichtlich von Lovecraft inspiriert, ist es Enwor nicht minder, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Und diese Art und Weise ist so eindrucksvoll, dass Enwor bis heute die beste Fantasy-Serie ist, die aus deutschen Landen kommt. Ich beziehe mich hier allerdings auf die ersten zehn Bände, die ich mehrmals gelesen habe, während ich Buch 11 und alles andere bisher nicht angefasst habe. Ob es diesmal anders wird, kann ich noch nicht sagen, aber ich habe vor, die gesamte Neuauflage zu begleiten.

Was diese Serie so besonders macht, ist natürlich ihr Setting. Das erste Buch erschien 1983. Man kann sich denken, dass die Fantasy-Landschaft damals eine gänzlich andere war als heute. Horror war groß (heute findet er als starkes Genre so gut wie überhaupt nicht mehr statt), und Figurenzeichnungen wie in der modernen Fantasy üblich, gab es eigentlich nicht. Alles richtete sich nach Tolkien aus, er war so gesehen magnetisch Nord, auf fast jedem neuen Fantasybuch war zu lesen: „Der neue Tolkien“ oder „In der Tradition Tolkiens“, und ähnliches. Enwor hat nichts mit Tolkien zu tun. Überhaupt nichts. Aber, wie bereits erwähnt, eben mit Lovecraft. Das mag nicht gleich ins Auge springen, denn Hohlbein entwarf hier mit seinem Freund Dieter Winkler eine eigenständige Welt und griffelte nicht am Lovecraft-Mythos herum, wie es heute schon fast üblich geworden ist. Die Idee zu Enwor hatten die beiden bereits seit ihrer Jugend, und während Hohlbein diese Welt an den nordamerikanischen Kontinent anpasste, entwarf Winkler die beiden Satai und ihr unzerstörbares Schwert Tschekal. Skar wurde nach seinen zahlreichen Narben benannt und Del ganz einfach nach der „Delete“-Taste der Computertastatur, schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der diese Dinge noch faszinierten.

Es gibt keine Große Alten und keine fischköpfigen Rednecks, aber es gibt etwas ähnliches. Es gibt starke Reminiszenzen, und schließlich gibt es die Sternengeborenen. 

Interessanterweise macht Hohlbein im vormals EndWorld genannten Kosmos das, was Stephen King später mit seinem Dunklen Turm machen sollte (auch wenn man beide Welten nun wirklich nicht miteinander vergleichen kann); er verlässt unsere Erde nicht, um sein Setting zu entfalten, sondern setzt seine Abenteuer in die Zukunft, direkt in eine Zeit hinein, da es unsere Zivilisation schon seit vielen Zehntausend Jahren nicht mehr gibt. Aber das war nicht das einzige Innovative.

Heute spricht man gerne von Grimdark, wenn es sich um eine Geschichte handelt, die ein gewissen Maß an „Realismus“ in sich birgt. Mit diesem Realismus ist keineswegs ein Mangel an Fantasie gemeint (ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass es Hohlbein daran garantiert nicht mangelt), sondern vor allem das Beiseitelegen eines schwarzweiß-Denkens. Das war zumindest in Deutschland 1983, als „Der wandernde Wald“ erschien, ein Novum. Die Gewaltdarstellungen sind hier brutal und detailliert. Zwar wird Hohlbein bei der Entwicklung der Grimdark-Fantasy nicht erwähnt, aber er war durchaus der erste, der etwas Neues versuchte. Und diese Welt, die er gemeinsam mit seinem Freund entwarf, war für damalige Verhältnisse definitiv das Ding der Stunde. Ich selbst bekam Enwor erst zehn Jahre später in die Finger und es war die erste Fantasy-Saga, die ich (nach dem Herrn der Ringe) überhaupt gelesen hatte. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ich las alle zehn Bücher innerhalb eines Monats. Etwas Vergleichbares war mir zu diesem Zeitpunkt nur mit Stephen King passiert.

Der wandernde Wald

Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Enwor ein ganzer Zyklus werden würde, und so ist Buch 1 für all jene geeignet, die einfach mal in diese Welt hineinschnuppern wollen. Ohne gleich das ganze Werk zu lesen. Der wandernde Wald funktioniert nämlich als eigenständige Geschichte, die keine weiteren Erkenntnisse benötigt oder am Ende mit einem saftigen Cliffhanger aufwartet.

Dennoch sind hier alle Zutaten vorhanden: Die beiden Satai Skar und Del, die einer sehr interessanten Kriegerkaste angehören, laufen eigentlich immer im roten Bereich. Dass wir sie hier als Freunde kennen lernen, macht die spätere Entwicklung um so tragischer. Hohlbein hat das Spannungsfeld dieser beiden Krieger so aufgebaut, dass es einen wichtigen roten Faden durch den ganzen Zyklus zieht. Skar selbst ist eine Blaupause für Logen Neunfinger aus Abercrombies Klingen-Trilogie. Hätte Hohlbein sein Werk heutzutage verfasst, würde das vermutlich ganz genau so gesehen werden – nur umgekehrt. Ein Krieger, der über die Möglichkeiten seines Körpers zu gehen gelernt hat und der im Kampf von einem Furor erfasst wird, den er gar nicht mehr kontrollieren kann.

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