Die Veranda: 6 Ich rippte in der Buck’s Row

Übersetzt man ›Veranda‹, ist eine mögliche Bedeutung: ›Der sehende Junge‹. Willi kommt zu seiner Veranda während des Vögelns. Diejenige, die da unter ihm zappelt – nicht weil es ihr gefällt, sondern weil sie keine Luft mehr bekommt (so fest hat er sich in sie gekrallt), heißt Ella. Ein wirkliches Abenteuer ist das nicht, sieht man einnmal davon ab, dass man der Dame in die Brustwarzen zu beißen hat, will man sie zum Klimax führen. Der kündigte sich mit einem »jetztjetztjetzt« an. Der so über ihren Leib Gestülpte, der nichts von ihrer erotischen Absonderlichkeit weiß, mag sich da bereits heroisch bestätigt fühlen, das Ziel ist erreicht, der Hengst gießt sich selbst aus und wälzte sich runter, um noch eine Mütze voll Schlaf zu erhaschen, bevor der Morgen wieder klingelt, der Leib zur niederen Tätigkeit geschunden wird. Die Mademoiselle macht Mathemusik, eine Muse der mathematischen Zufälle auf der Geige, die Pausen singen von dem, was die Materie auseinandertreibt.

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Die Veranda: 5 Die Drogen dein Honig

Heute sitzt Willi bei denkbar schönem Wetter auf seinem Balkon herum, der natürlich irgendwie auch Ilenes Balkon ist, trinkt Kaffee und blickt über den Eichenhain hinweg. Die leichte Betäubung seiner Nerven – durch das aufpeitschende, schwarze Gold kommt es ihm zumindest so vor, als sitze er auf seiner Veranda. Die Eichen zerlegen sich zu Dornensträuchern, was übrigbleibt zu einer Sukkulentenvegetation. Die überschaubare Ebene arrangiert sich zu sanft geschwungenen Berghängen und wie ein Hochofen gießt die Sonne ihr grüngeschmolzenes Blei vor die Augen. Selbst der nervus glossopharyngeus verändert unter diesen Voraussetzungen die Anzahl seiner Geschmacksknospen. Die Dendriten übermitteln: Sonne schmeckt nach Zitrone oder Apfelsine. Jonathan Levke hatte ihm das gesagt, damals an der Uni.

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Die Veranda: 4 Hypnose ist kein Schlaf

Die Hochzeit: Schlitten, die auf Rädern die Kufen nachstellten, schneelos den Asphalt berollten, klingelten herbei, schön geschmückt mit Glöckchen und Glocken und Bändchen, schöner gar als die Jungfern trugen. Hypnose ist kein Schlaf sondern ein Wachzustand. Achatne Kugeln pilgerten die künstlich angelegten Gartenwege entlang, die allein dem Zweck dienten, die Braut für fotodokumentarische Zwecke dort entlang schweben zu lassen, wenn sie denn eintrifft (sie scheint sich zu verspäten). Aus Wasserspeiern pinkelt goldeingefärbtes Wasser, das in reichverzierten Auffangbecken glitzert.

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Die Veranda: 3 Jeu de Dames

»Ich weiß, es ist nicht deine Veranda, Schatz, aber es ist nicht weit davon entfernt, oder?« Dabei lächelte sie in einem ausgeklügelten System. Willi hätte Ilene am liebsten eine runtergehauen, eine wie Beethoven, die Bläser doppelt. Unter mondscheinbehangenen Trauben hatte er ihr erzählt, was ihm diese Veranda bedeutet, da waren sie noch nicht verheiratet gewesen, noch jedes Wort schön, klingt wie Geigen. Die Insekten symphonieren waffenstillständisch, erst später wird gestochen, gekrabbelt, gesummt, belästigt, ins Bier kamikaziert. Draperie des Mondenscheins, Wasser nicht still, bewegt vom Schunkeln der Erde, angestampfter Baggersand, Moon am Schlafen, eine Kulisse, wie um die Grotte von Vaucluse. Bildungen des Zufalls sind Bilder der Schönheit, Erdspalten und Grotten ein Synonym für das Weibliche. Das wusste auch Petrarca, der hier in die Quelle der Sorgue blickte und seine Laura besang (Anselm Feuerbach hatʼs dann gemalt). Die Erde ist voller Löcher, wie ein vom Furzen durchsiebter Käse. Warum sollte nicht ein vergessene Rasse, deren Stammvater ein Talpa ist, da unten leben, Ölkerzenalleen anlegen, der Mittelpunktsonne huldigen, angepasst mit Schaufelrädern an den Flanken, tellergroße Membrane an den Wangen, das Gehirn eines Pottwals, trockene Ursuppe, Bruder Ozean, der See hier vielleicht eine Toilette, denk’ mal dran, wer alles unter Wasser defäkiert und dann erinnere dich an das Paradies, das kannst du, es ist alles in unseren Zellen gespeichert, wir sind fleischfressende Mikrochips. Das Hirn, die Fleischmaschine. Das Leben existenzlos, auch die Welt: existenzlos.

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Die Veranda: 2 Wolkenpumpe

Willi hat zu viel Zeit zum Nachdenken, zu wenig Zeit, etwas zu verändern. Vielleicht hat sich die Tür, die offenstand, wie es uns das Unterbewusste lehrt, mit lautem Krachen geschlossen, vielleicht ist dies das Geräusch, das er hört, bevor er in Aufruhr gerät und stets zur selben Stunde erwacht : »Hier spricht die Zeit! Bleiben Sie stehen und hören Sie gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen!« Und auch die Bewegung, die er jetzt ausführt (es ist nur ein Streifen mit den Fingern an der Schläfe entlang), wird er nicht noch einmal machen. Frischluft wirbelt einsam in der bodennahen Grenzschicht herum, windkateraktreitende Pollen, Nacktsamer, Bedecktsamer. Nichts könnte tauglicher sein für ein tägliches Brunchen mit der Feder als jenes Fragment 91 des dunklen Heraklit. Alles plätschert oder fließt also, und man wird nicht zweimal in das gleiche Flussbett pinkeln. Aber die Zeit fließt nicht wie ein Fluss, sondern tickt wie eine Uhr, wobei jedes Ticken einer Planck-Zeit von 10-43 Sekunden entspricht, genauer gesagt, die Zeit im Universum fließt mit dem Ticken unzähliger Uhren. Bei einem Tick ist die Materie da, beim nächsten Tick ist sie verschwunden – eigentlich wird das Ticken durch das Verschwinden definiert. Aber zwischen den Ticks existiert die Zeit nicht; es gibt so wenig ein Dazwischen wie es Wasser zwischen zwei benachbarten Wassermolekülen gibt. Doch das Beunruhigende an der Zeitfluss-Metapher ist nicht der Fluss, der sich von der Kaverne hervor aus dem Quell greint, sondern dass wir selbst es sind, die nie wieder dieselben sein können. Ein Gedanke, der uns ontologisch gebeutelten Wesen sagt, dass es Sein an sich nicht gibt, dass Werden und Bewegung bereits alles ist. Wir können sagen, dass es unsere Fiktionen von uns selbst sind, die sich im Werden befinden, dass wir die Weltgeschichte entziffern, indem wir sie erfinden.

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Die Veranda: 1 Nichts ist so trüb in die Nacht gestellt

überarbeitet

Willi Kreutzmann erhebt sich nun doch endlich. Er kann nicht mehr richtig liegen, die ihm möglichen Stellungen sind verbraucht. In Bauchlage gelingt es ihm nicht, das zum Überleben nötige Sauerstoffvolumen durch das Federkissen zu saugen, auf dem Rücken liegend besitzt er die Angewohnheit, die Finger wie bei einer Leiche über dem Solarplexus zu verschränken und fühlt sich deshalb merkwürdig, sanftmütig gar, wirklich wie dahingeschieden. Die linke Seite, eigentlich seine Lieblingsseite, lässt ihn unkoordiniert auf das Kissen sabbern, liegt er auf der rechten, schläft immer sein verdammter Arm ein und der Hals tut ihm weh.

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Der Taubenfütterer: 3 Gurru, Gurru

»Gurru, Gurru!« Das ist natürlich Zufall, sie kann nicht wissen, dass er Tauben füttert, allein, um sich das Recht zu erwerben, sie auch zu verspeisen: Taubenfilet, Grilltaube, Taubeneintopf, nimmt dabei Kümmelbrot mit Kräuterbutter als Köder. Ihre Hand umfängt den Wetzkegel wie ein Kompressor, die Grobschlächtigkeit macht ihn richtig scharf. »Gurru, Gurru!« Von unten nach oben: sie kniet immer noch vor seinen Schienbeinen und reckt die Hände: mein Scheißerschmutzerle. Sein Blick fällt auf den Picatrix, 1256 für den kastilianischen König Alfons X. aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt, daneben das Heptameron des Petrus von Abano, das Dictionnaire Infernal, den Codex Seraphinianus, und dann, jawoll: Johannes Hartliebs Von der verpotenen Kunst.

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